Pro und Contra Mitgliederentscheid: Die Basis und die Demokratie

Die Union und manche Wähler sind genervt. Doch die SPD befragt vor der Regierungsbildung noch mal die Basis. Ist das demokratisch?

Die Willy Brandt Statue in der SPD-zentrale von oben

Basisbefragung: ein Mittel zum Perspektivwechsel? Foto: Imago/Emmanuele Contini

Die SPD befragt auch nach der Wahl und langwierigen Verhandlungen nochmal die Basis nach ihrer Zustimmung zu einer möglichen Großen Koalition. Doch ist das wirklich demokratisch?

Ja

Die an sich selbst zweifelnde SPD mit Häme zu überziehen, ist ja eine Art Volkssport geworden. Der neueste Vorwurf: Die Idee, die rund 450.000 SPD-Mitglieder über die Große Koalition abstimmen zu lassen, sei undemokratisch. Schließlich gebe es 61,5 Millionen Wahlberechtigte in Deutschland, die alle eigene Meinungen zur künftigen Regierung haben – und nur eine Stimme abgeben durften. Dieser Vorwurf, mit Verlaub, ist grober Unfug.

Erinnern sich noch alle daran, wie Christian Lindner von der konservativ-liberalen Presse gefeiert wurde, weil er die Jamaika-Sondierungen abbrach? Lindner hat wie ein kleiner Diktator im Alleingang entschieden, aufs Regieren zu verzichten – obwohl sich sicher viele der fünf Millionen FDP-Wähler über eine deftige Steuersenkung gefreut hätten. Bei der Union machen traditionell die Führungsgremien unter sich aus, ob und wie regiert wird. Solche Top-down-Prozesse machen vieles einfacher, aber demokratischer sind sie sicher nicht. Die SPD wirkt im Vergleich ungemein fortschrittlich, sie ließ schon 2013 ihre Mitglieder über die Große Koalition abstimmen.

Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit. Und das Parteiengesetz verpflichtet sie zur innerparteilichen Demokratie – nicht ohne Grund hat das Verfassungsgericht Klagen gegen den Mitgliederentscheid abgewiesen. Was die SPD vorführt, ist ein Stück gelebte Demokratie. Es mag in der Union nerven, dass die SPD-Führung um Schulz versucht, Extrawünsche ihrer Basis durchzukämpfen. Aber ihre Regierungsarbeit wird – im Fall des Falles – breit legitimiert sein.

Die Volksparteien sind in einer veritablen Krise. Ihre Macht schwindet, ihre Milieus sind zersplittert, sie gelten als veränderungsresistent. Gleichzeitig gedeihen die Rechtspopulisten, weil viele Menschen die sogenannten etablierten Parteien verachten. In diesen Wochen treten viele Menschen in die SPD ein, weil sie das gute Gefühl haben, mitentscheiden zu können. Angesichts dessen über Mitgliederentscheide herzuziehen, ist keine gute Idee. Ulrich Schulte

Nein

Das Eigenlob will gar kein Ende nehmen, wenn die Sozialdemokraten über ihren Mitgliederentscheid zum Groko-Koalitionsvertrag sprechen. Sie halten ihre Partei für das Sahnehäubchen der Demokratie. Was für ein Irrglaube. Nicht alles, über das abgestimmt wird, ist gleich auch demokratisch.

Die WählerInnen haben im September darüber entschieden, wer sie vertreten soll. Man nennt es repräsentative Demokratie. Doch statt den gewählten VolksvertreterInnen im Bundestag entscheidet nun ein exklusiver Klub namens SPD darüber, wie die künftige Bundesregierung aussieht und was genau sie umsetzen wird. Das ist nicht demokratisch, sondern eine Entmündigung der WählerInnen.

Dieses Mal geht es außerdem um weit mehr als nur einen Koalitionsvertrag mit der ungeliebten Union und die parteipolitisch durchaus nachvollziehbare Sorge um die Zukunft der SPD. Die GenossInnen entscheiden darüber, ob es zu Neuwahlen kommt. Es geht bei der derzeitigen Verhandlungen um die Frage, wie Deutschland mit der derzeitigen politischen Konstellation im Bundestag überhaupt regiert werden kann. Darüber stimmen nicht die MandatsträgerInnen, sondern 450.000 SPD-Mitglieder ab. Sie haben kein Mandat, sondern sich ihre Stimmberechtigung quasi per Mitgliederbeitrag erworben. Es gehört schon Fantasie dazu, das als besonders demokratisch anzusehen.

Es stimmt, dass die konservative Presse auffallend einseitig auf die Entscheidungsfindung der SPD eindrischt, während sie mit der Hinterzimmerpolitik anderer Parteien kein Problem zu haben scheint. Doch das macht ihre Argumente nicht falsch. Es stimmt auch, dass FDP-Chef Christian Lindner im Alleingang ein Jamaika-Bündnis hat platzen lassen. Doch er hat ein Mandat und wird sich letztlich gegenüber seinen Wählern verantworten müssen.

Der SPD-Basisentscheid mag nicht verfassungswidrig sein, doch er hinterlässt großes Unbehagen. Hier entsteht der Eindruck, dass man nur mitbestimmen kann, wenn man einer Partei angehört. Das kann niemand wollen. Silke Mertins

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

Kommentatorin & Kolumnistin, Themen: Grüne, Ampel, Feminismus, Energiewende, Außenpolitik

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