Mord an Jüdin schockiertFrankreich

Die 85-jährige Holocaust-Überlebende Mareille Knollwar am vergangenen Freitag tot aufgefunden worden.Die Ermittler gehen von einem antisemitischen Motiv aus

Foto: Clotaire Achi/reuters

Aus Paris Rudolf Balmer

Es musste sich um ein Verbrechen gehandelt haben. Davon ging die Polizei aus, nachdem die Feuerwehr am vergangenen Freitag die teilweise verkohlte Leiche einer 85-jährigen Frau in ihrer Wohnung im 11. Arrondissement von Paris gefunden hatte. Am Tatort war an mehreren Stellen Feuer gelegt worden, die Tote wies Stichwunden auf. Doch nicht nur die Gewalt gegen eine ältere, auf einen Rollstuhl angewiesene Frau schockiert nun Frankreich: das Opfer, die Jüdin Mireille Knoll, ist womöglich wegen ihrer Religion getötet worden.

Die Ermittlungsbehörden haben bestätigt, dass eine Untersuchung wegen vorsätzlicher Tötung mit antisemitischen Motiven eröffnet wurde. Die Pariser Staatsanwaltschaft hat am Dienstag offiziell mitgeteilt, dass bereits zwei am Wochenende festgenommene Tatverdächtige in Untersuchungshaft sitzen. Nun rollt der Fall die Debatte über Antisemitismus in Frankreich neu auf.

In den vergangenen Jahren erschütterten Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund Frankreich immer wieder. Laut der Europa-Direktorin des American Jewish Committee (AJC), Simone Rodan-Benzaquen, ist der Mord an Mireille Knoll der elfte in zwölf Jahren an Menschen, die wegen ihres Judentums angegriffen wurden.

April 2017

Der Mord an einer Rentnerin schreckt die jüdische Gemeinschaft in der Hauptstadt Paris auf: Ein Nachbar hatte Sarah Halimi misshandelt und dann vom Balkon geworfen. Er habe die Rentnerin als „Scheitan“ (arabisch für Teufel) bezeichnet, berichteten die Anwälte der Familie des Opfers später. Der Fall hatte enorme Kritik ausgelöst, weil die Ermittler zunächst nicht von einem explizit antisemitischen Motiv ausgegangen waren.

Januar 2015

In einem jüdischen Supermarkt in Paris kommt es zu einer Geiselnahme, bei der ein Islamist vier Juden erschießt – zwei Tage nach dem ebenfalls von Islamisten verübten Anschlag auf die Satirezeitung Charlie Hebdo. Der Präsident des Dachverbands der jüdischen Organisationen in Frankreich (Crif), Roger Cuikerman, spricht danach von einem „Kriegszustand“.

März 2012

Der Islamist Mohamed Merah tötet in einer jüdischen Schule in der südfranzösischen Stadt Toulouse drei Schüler und einen Lehrer.

Januar 2006

Eine Vorstadtbande entführt den 23-jährigen französischen Juden Ilan Halimi, um Lösegeld zu erpressen. Er wird verschleppt, drei Wochen lang foltern ihn die Täter. Man findet den jungen Mann mit Brandwunden an einem Bahndamm; noch auf dem Weg ins Krankenhaus erliegt er seinen schweren Verletzungen. Ein Lösegeld wurde nicht gezahlt. (dpa, afp)

Nach Angaben ihres Sohns war Mireille Knoll als Kind nur knapp der Deportation entkommen, als im Juli 1942 die französische Polizei bei einer Razzia als willfährige Helferin der Nazis Tausende von Juden verhaftete und vor einem Weitertransport in das Konzentrationslager im Pariser Stadion Vel d’Hiv festhielt. Knoll konnte mit ihrer Mutter fliehen. Nach einem Exil in Portugal war sie nach dem Krieg nach Paris zurückgekommen und hatte einen Mann geheiratet, der das Konzentrationslager Auschwitz überlebt hatte.

Der 28-jährige Verdächtige, der als Erster bereits am Samstag festgenommen wurde, war dem Opfer als junger Nachbar vertraut. Ihr Sohn Alain hat gegenüber der Nachrichtenagentur AFP sogar erklärt, seine Mutter habe diesen Jungen seit dessen siebtem Altersjahr gekannt und „wie ein Familienmitglied betrachtet“. Dieser war wegen Sexualdelikten vorbestraft. Er soll sich mit seiner Nachbarin, die seine Vermieterin war, kürzlich wegen ausstehender Zahlungen gestritten haben, gab Sammy Ghozlan von der Überwachungsstelle für Antisemitismus an.

Alle Bürger der Hauptstadt sollten am Mittwoch bei einer stillen Demonstration an Mireille Knoll erinnern

Geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass dieser mutmaßliche Täter und sein Komplize womöglich aufgrund immer noch verbreiteter antisemitischer Vorurteile glaubten, dass ihr Opfer als Jüdin Wertsachen besaß? Das war bei einem anderen Fall für die Täter ausschlaggebend: 2006 entführte die Vorstadtbande „Gang der Barbaren“ aus solchen Gründen den jungen Juden Ilan Halimi, um ihn nach einer erfolglosen Lösegelderpressung zu Tode zu foltern.

Dass die Staatsanwaltschaft jetzt den strafverschärfenden antisemitischen Charakter des Verbrechens sogleich bestätigt hat, wurde in der jüdischen Gemeinde mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis genommen. Die Behörden zeigen damit zumindest, dass sie die wachsende Gefahr von Aggressionen und Gewalt gegen jüdische Bürger sehr ernst nehmen. In einem ähnlichen Fall im Jahr 2017, beim Mord an der 65-jährigen Jüdin Sarah Halimi-Attal in Paris, hatten ihrer Ansicht nach Justiz und Medien zu lange gezögert, den antisemitischen Charakter der Tat einzuräumen.

Der Tatort: Die Täter hatten Feuer in der Wohnung gelegt Foto: Christophe Ena/ap

„Nie wieder“, schwören die jeweiligen Regierungsvertreter nach jedem aufschreckenden antijüdischen Verbrechen. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat für Mittwoch zu einer Kundgebung aufgerufen. Alle Bürger der Hauptstadt sollten bei einer stillen Demonstration an Mireille Knoll erinnern. Politiker quer durch das politische Spektrum sagten ihre Teilnahme zu.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat aus Anlass des „schrecklichen Verbrechens“ bekräftigt, er sei „absolut entschlossen, gegen den Antisemitismus zu kämpfen“. Leichter gesagt als getan: In gewissen Quartieren, wo Juden, Muslime und Christen lange reibungslos miteinander auskamen, können es heute die Juden aus Angst vor Bemerkungen oder Aggressionen nicht riskieren, am Sabbat unbehelligt mit einer Kippa auf die Straße zu gehen. Nicht zuletzt deswegen wandern jedes Jahr Tausende von französischen Juden nach Israel aus. Die jüdische Gemeinschaft in Frankreich zählt rund 500.000 Mitglieder, von denen fast die Hälfte ab 1960 aus Nordafrika eingewandert ist.