Schon wieder Sachsen

Nach einem Streit mit Todesfolge in der Nacht auf Sonntag rufen „besorgte Bürger“ und Rechtsextreme zu Spontandemos in Chemnitz auf. Kurz darauf sind Hunderte unterwegs. Eine Fallrekonstruktion

Polizisten nach dem Abbruch des Stadtfestes in Chemnitz, zunächst schienen die Beamten überfordert Foto: Andreas Seidel/dpa

Von Martin Kaul
und Sarah Ulrich, Berlin

Es beginnt, wie so häufig, mit einer Unklarheit, die am Ende hunderte Menschen auf Chemnitz’Straßen treiben wird. Viele von ihnen – Männer, Frauen, Kinder – laufen an diesem Sonntagabend schweigend hinter der großen Masse her. Andere – meist Männer – skandieren rechtsextreme und ausländerfeindliche Parolen, gehen auf Polizisten los und auf Menschen, die irgendwie nach Ausländern aussehen.

„Ihr Kanaken!“

„Ihr Fotzen!“

„Scheißbullen!“

Das sind einige der Rufe, die auf Videos, die später im Internet kursieren, immer wieder zu hören sind. Und: „Wir sind das Volk!“ „Das ist unsere Stadt!“

Einmal sagt auch jemand: „Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer!“

Als am Montag die Bilder von Chemnitz im Netz kursieren, als die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen aufgenommen hat und Sachsens Innenminister eine Stellungnahme ankündigt, ist der Freistaat Sachsen – gerade erst wegen seines Umgangs mit Journalisten in der Kritik – schon wieder ein Fall für die Bundesregierung geworden. Angela Merkels Sprecher Steffen Seibert sitzt in Berlin vor der Presse und sagt: „Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft oder der Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten, das nehmen wir nicht hin, das hat bei uns in unseren Städten keinen Platz.“ Schon wieder: Sachsen.

Noch ist nicht abschließend geklärt, wie genau der Streit begann und was sich schließlich in der Nacht auf Sonntag gegen 3.15 Uhr in der Brückenstraße in Chemnitz abgespielt hat, eines jedoch ist klar. Am Ende einer Auseinandersetzung zwischen Männern unterschiedlicher Nationalitäten, so bestätigt es später die Polizei, werden drei von ihnen schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Einer von ihnen, ein Mann mit deutsch-kubanischer Herkunft und deutscher Nationalität, ein Tischler, 35 Jahre alt, stirbt dort.

Gegen einen 23-jährigen Syrer und einen 22-jährigen Iraker beantragt die Staatsanwaltschaft Chemnitz am Montag einen Haftbefehl. Sie seien dringend verdächtig, nach einem Streit ohne Grund mehrfach mit einem Messer auf den Mann eingestochen zu haben.

Dieser Vorfall ist auch der Grund, warum noch am Sonntag in Chemnitz ein Stadtfest abgebrochen wird. Es ist das Geburtstagsfest der Stadt.

Angeblich, so heißt es, wird das Fest aus Pietät abgebrochen, wegen des Toten. Doch tatsächlich drängt zu diesem Zeitpunkt die Polizei auf einen Abbruch – aus Sicherheitsgründen. Denn in rechten Foren und in rechtsextremen Gruppen mobilisieren „besorgte Bürger“ und organisierte Rechtsextreme zu Spontandemonstrationen in die Stadt.

Auch die Ultra-Vereinigung Kaotic Chemnitz ruft im Internet dazu auf, in die Stadt zu ziehen. In einer Botschaft bei Facebook schreibt die rechte Fangruppe mit großer Nähe zur rechtsextremen Szene (siehe Text unten): „Lasst uns zusammen zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat! Ehre Treue Leidenschaft für Verein und HEIMATSTADT“. Kurze Zeit später sind in Chemnitz Hunderte Menschen unterwegs. Und die Polizei hat die Lage nicht unter Kontrolle.

Zu diesem Zeitpunkt ist der tote Mann aus der vorangegangenen Stadt bereits nur noch ein „Deutscher“. Und die, die ihn umgebracht haben, sind „Ausländer“ – oder wie ein Bundestagsabgeordneter der AfD noch Sonntagnacht an seinen Twitter-Account heften wird: „Todbringende Messermigranten.“ Zu diesem Zeitpunkt berichten Augenzeugen bereits via Twitter davon, dass Rechtsextreme im Schutze der Masse auf mutmaßlich ausländisch wirkende Menschen losgegangen seien, sie beschimpften und bedroht hätten.

Am Montag dann ist der Fall ein Deutschlandpolitikum. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, CDU, schreibt via Twitter: „Es ist widerlich, wie Rechtsextreme im Netz Stimmung machen und zur Gewalt aufrufen.“

„Es ist widerlich, wie Rechts-extreme im Netz zur Gewalt aufrufen“

Michael Kretschmer, CDU

Und tatsächlich: Für Montagnachmittag riefen erneut diverse rechte und rechtsextreme Gruppen nach Chemnitz – unter ihnen ein Aufruf der nationalsozialistischen Partei „III. Weg“, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird und sich zuletzt am 1. Mai unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit in Chemnitz inszenierte. Zum Tag der Arbeit hatten die Neonazis, überwiegend Männer, in Chemnitz Rechtsextreme aus ganz Deutschland um sich gescharrt, um für einen nationalen Sozialismus in Deutschland zu demonstrieren.

Zu weiteren Protesten und Mahnwachen für Montagabend riefen auch die Identitäre Bewegung Sachsen, Rechtsextreme vom sogenannten „Tag der deutschen Zukunft“ oder die rechte Kampfsportgruppe Imperium Fight Team auf, deren Mitglieder unter anderem als Hooligans durch den Neonazi-Angriff im Leipziger Stadtteil Connewitz bekannt sind.

Auch das Bündnis Chemnitz Nazifrei rief für Montagabend zu einer Kundgebung auf – um sichtbar gegen die Rechtsextremen Stellung zu beziehen. Diverse antifaschistische Gruppen aus Chemnitz, aber auch aus Leipzig und Dresden riefen dazu auf, sich den Rechtsextremen in den Weg zu stellen, damit Szenen wie in Rostock-Lichtenhagen 1992 sich nicht in Chemnitz wiederholen könnten – und der rechte Mob ohne Kontrolle durch die Straßen zieht und Jagd auf MigrantInnen macht.

Die Polizei, die am Sonntag noch überfordert schien und mit deutlich zu wenigen Beamten vor Ort war, kündigte für Montagabend an, über „ausreichende Einsatzkräftezahlen“ zu verfügen.

Mehr zum Thema:

Ein Interview von Frederik Eikmanns mit der sächsischen Linkspartei-Politikerin Juliane Nagel über rechtsextreme Hotspots in Sachsen, die Bedeutung von Chemnitz für die rechtsextreme Szene sowie aktuelle Entwicklungen nach Redaktionsschluss finden Sie unter www.taz.de