Das erhoffte Signal

Von den einst besetzten Häusern bis zur Elbphilharmonie: Mehrere Zehntausend Menschen demonstrieren in Hamburg gegen Rassismus. Die Flüchtlingsfeindlichkeit hat der Protestbewegung einen Schub gegeben. Der AfD passt das gar nicht

Buntes Hamburg: TeilnehmerInnen der Demonstration am Samstag Foto: Romy Arroyo Fernandez/Zuma/imago

Aus Hamburg Christian Jakob

Wohl keiner hat sie alle gesehen. Wenn das Ende des Zuges kommt, war die Spitze schon vor einer Stunde da: Die „Omas gegen rechts“ und die DJs, die Kurden und die Afghanen, die Seenotretter und die Frauen, Ärzte, Eritreer oder Roma: Insgesamt 45 Trucks, dröhnend laut, geschmückt. Ein Karneval gegen Abschiebung, gegen die AfD, gegen die Seehofers und die Orbáns dieser Welt.

450 Flüchtlingsgruppen aus ganz Deutschland haben zur Welcome-United-Parade am Samstag in Hamburg aufgerufen. Sie wollen an die Grenzüberschreitung der Flüchtlinge vom Budapester Bahnhof Keleti vor drei Jahren erinnern; und jetzt schieben die Menschen und die Laster sich in einer nicht zu überblickenden Prozession durch St. Pauli in Richtung Hafen.

Fast am Ende, dort, wo Bässe die Trucks der Seenotrettungsgruppen umwabern, läuft Swantje Tiedemann, eine junge Frau mit blonden kurzen Haaren. Sie ist gewissermaßen auf Betriebsausflug: In Nordfriesland versucht Tiedemann ehrenamtliche Flüchtlingshelfer zu unterstützen, ihr Arbeitgeber ist der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein, dessen Transparent sie und fünf KollegInnen vor sich her tragen. „Musikalisch haben wir es hier hinten nicht so gut getroffen“, sagt Tiedemann, ansonsten aber ist sie zufrieden. Hier sei ein „auffällig breites Publikum“ unterwegs, sagt sie: Familien mit Kindern und Hunden, ältere Leute; solche, die wohl immer schon politisch aktiv waren – und solche, die wohl noch vor wenigen Monaten nicht auf eine solche Veranstaltung gekommen wären.

„Die politische Lage, was in Chemnitz passiert ist, das hat manchen Menschen das Gefühl gegeben: Da müssen wir was machen“, sagt Tiedemann. Genau das spüre sie auch bei ihrer Arbeit mit den Flüchtlingshelfern in der ländlichen Region im äußersten Norden der Republik. „Das sind oft Leute, die etwas älter und konservativ in ihrer Grundhaltung sind. Und trotzdem ist bei ihnen jetzt eine Politisierung festzustellen.“ Heute in einer solchen Masse auf der Straße zu sein, findet sie „beruhigend. Das zeigt, das man nicht so alleine ist, wie man manchmal denkt.“

Seit dem Sommer hat sich die Lage in Sachen Flüchtlinge fundamental verändert: Im Mittelmeer hat Italien jede menschenrechtliche Hemmung fallen gelassen und seine Häfen gesperrt, in Marokko wird auf Flüchtlinge geschossen. In Deutschland ist mit Horst Seehofer ein Minister für Migration zuständig, der diese für „die Mutter aller Probleme“ hält und danach auch handelt. Und seit dem Wochenende wird die AfD laut einer Umfrage als zweitstärkste Partei in Deutschland gehandelt.

Der Protestbewegung allerdings gab das einen Schub. Die Seenotretter, deren Schiffe an die Kette gelegt wurden, bekamen so viele Spenden, dass sie sich jetzt einfach neue kaufen können – wenn sie denn wüssten, wo sie die Menschen damit hinbringen sollen. Die Seebrücken-Demos schafften es aus dem Stand, nahezu flächendeckend in ganz Deutschland Demonstrationen zu organisieren. 50.000 Menschen gingen unter dem Motto „ausgehetzt“ in München gegen die CSU auf die Straße. Und bei der „#unteilbar“-Demo in zwei Wochen in Berlin sollen es noch viel mehr werden.

Auf diese Stimmung hatten auch die Veranstalter von Welcome United gesetzt. 25.000 Menschen, so kündigten sie an, würden an diesem Tag nach Hamburg kommen. Um 16.20 Uhr spricht die Polizei von 20.000. Die Agenturen übernehmen die Zahl. Die Organisatoren lassen selbst zählen und melden, es seien 30.000.

Am Abend berichten fast alle großen Medien über die Parade. Aus 35 Städten sind Busse gekommen. Eine größere Aktion haben Flüchtlingsgruppen in Deutschland noch nie auf die Beine gestellt. Und dieser Rekord, er ist vielen hier heute noch wichtiger als sonst: Wir sind eben doch mehr – das ist das Signal, das man senden will.

3. Oktober, München:

Kurz vor der Landtagswahl in Bayern soll am Tag der Deutschen Einheit noch mal unter dem Motto „Jetzt gilt’s! Gemeinsam gegen die Politik der Angst“ demonstriert werden. Neben anderen rufen dazu der Flüchtlingsrat, Attac und die Initiative „Nein zum Polizeiaufgabengesetz“ auf.

Fast täglich, deutschlandweit:

Unter dem Motto „Seebrücke“ gibt es im Oktober fast täglich Aktionen und Treffen an einem oder mehreren Orten in Deutschland für sichere Fluchtwege und gegen die Abschottung Europas. Am Montag zum Beispiel in Wasserburg und Kulmbach, am Mittwoch in Weißenburg und Sundern, am Samstag in Bochum, Stralsund Regensburg und anderen Orten.

13. Oktober, Berlin:

Unteilbar“ ist das Motto einer Demo, zu der in Berlin mehrere Zehntausend Menschen kommen sollen. Über 150 Organisation vom Allgemeinen Behindertenverband bis zum Zentralrat der Sinti und Roma wollen für eine offene Gesellschaft demonstrieren.

Um 16 Uhr erreicht der Zug die Hafenstraße. Entlang der grandiosen Kulisse der Docks, vom alten Elbtunnel bis zum Fischmarkt, parken die Trucks im Steinwurfabstand. Genau hier prügelte die Polizei vor einem Jahr, beim G20-Gipfel, die autonome „Welcome2Hell“-Demo auseinander, noch bevor sie losgelaufen war. An diesem Samstag aber ist von Polizei nichts zu sehen.

Die Musik läuft weiter, RednerInnen sprechen vom NSU, von der Lage geflüchteter Frauen oder über die EU-Grenzschutzagentur Frontex. Vor den einst besetzten Häusern der Hafenstraße wird Suppe ausgegeben. Auf dem Transparent der Bühne der Abschlusskundgebung steht: „Migration ist die Mutter aller Gesellschaften“. Bilder davon verbreiten sich in Minutenschnelle auf Twitter.

Mittendrin, im Schatten einer Fußgängerbrücke, steht Newroz Duman, eine junge Kurdin aus Hanau mit wallenden dunklen Locken. Sie selbst floh 2006 über das Mittelmeer nach Deutschland, seitdem ist sie politisch aktiv. Schon vor einer Woche ist sie nach Hamburg gekommen, hatte die Parade mitorganisiert und auch die Zahl von 25.000 an die Presse gegeben. Nicht alle im Vorbereitungskreis hatten das für eine gute Idee gehalten. Jetzt hat sie mit ihrer Prognose recht behalten.

Zufrieden gibt Duman Interviews, sagt Sätze wie: „Alle, die hier sind, sind von hier“, oder „Das Problem heißt nicht Migration, das Problem heißt Rassismus.“ Der darüber entscheide, wer auf dem Mittelmeer gerettet werde und wer ertrinken müsse, der entscheide darüber, wer ein Recht auf Familienleben und wer im Job stärker ausgebeutet werde.

Dagegen helfe nur praktische Solidarität. Immer wieder erklärt Duman, wie stark die heute sei. „Jeden Tag wehren sich in diesem Land Tausende in ihrem Alltag gegen Nazis oder Abschiebung.“ Deutschland, will sie sagen, ist voll von Leuten wie Swantje Tiedemann und ihren Ehrenamtlichen in Nordfriesland. Und auf die komme es nun an: Wenn die Politik in die Offensive gegen den Flüchtlinge gehe, müssten Unterstützer für Schutz sorgen.

Und an diesem Nachmittag sieht es so aus, als seien dazu viele bereit, bis in sehr bürgerliche Kreise. Selbst die Elbphilharmonie hat die Flaggen der Welcome-United-Parade gehisst, ebenso wie viele Theater und andere Kultureinrichtungen in Hamburg.

Das ist auch der AfD nicht entgangen: „Undankbare Ausländer (+ deutsche Linksradikale) demonstrieren dafür, dass Deutschland so wird, wie die Heimatländer aus denen sie geflohen sind“, twittert der Hamburger Landesverband. Dass öffentliche Kultureinrichtungen sich auf die Seite der Abschiebegegner schlagen, ist für sie ein Unding.

„Chemnitz hat das Gefühl gegeben: Wir müssen was machen“

Swantje Tiedemann, Demonstrantin

Kurz bevor die Sonne hinter dem Fischmarkt in der Elbe versinkt, betritt Ibrahim Manzo Diallo die Bühne. Der Radioredakteur trägt eine schwarze Lederjacke und verbeugt sich in alle Richtungen. Er lebt in Agadez in Niger und leitet dort den Sender Sahara FM. Durch Agadez kamen jahrelang fast alle Westafrikaner auf dem Weg nach Europa.

Vor zwei Jahren kam Angela Merkel, seitdem bewachen Mili­tär und Polizei, ausgerüstet von Deutschland und der EU, die Route durch die Wüste. Migranten werden gestoppt, ihre ­Fahrer verhaftet. Diallo hat früh darauf aufmerksam gemacht, dass deshalb immer mehr Migranten auf gefährlichen Routen, weit abseits der Straßen, durch die Wüsten fahren und dort den Tod finden. Die Sahara sei durch die Intervention der EU heute „ein Friedhof unter freiem Himmel“.

Diallo ist dabei, ein Alarmtelefon für Migranten, die auf dem Weg durch die Wüste in Not geraten, aufzubauen. Ohne die Hilfe der europäischen Gruppen, die ihn zu der Demo nach Hamburg eingeladen haben, wäre das nicht möglich. „Ich bin geehrt und glücklich, dieses andere Europa in Form von euch heute hier zu sehen“, sagt er.

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