Völkermord ohne Ende

Vor über vier Jahren tötete und verschleppte die Terrormiliz IS Tausende von Jesiden im Irak. Heute fühlen sich die Angehörigen bei der Suche nach den Vermissten allein gelassen

Taufzeremonie: Jesidische Familien im Lalisch-Tempel, Nordirak, dem religiösen Zentrum des Jesidentums. Er ist zugleich die Grabstätte von Scheich Adi ibn Musafir, einer wichtigen Figur dieser monotheistische Religion. Sie bezieht sich auf eine mehr als vier Jahrtausende alte Tradition Foto: André Liohn/Prospekt

Aus dem Nordirak Meret Michel

Hadschi Hamid Tallu hat ein Poster gebastelt. Dutzende Fotos, fein säuberlich nebeneinander geklebt, zeigen die Gesichter von Männern, Frauen und Kindern. Es sind seine Angehörigen. Diejenigen, die der „Islamische Staat“ (IS) getötet oder entführt hat. Vier Jahre ist es her. Von vielen fehlt bis heute jede Spur.

Tallu stammt aus einem kleinen Dorf im nord­irakischen Distrikt Sindschar. Am 3. August 2014 fiel der IS hier ein. Er tötete Tausende Männer und entführte über 6.000 Frauen und Kinder. Darunter: 77 von Tallus Verwandten. Viele der Frauen wurden als Sklavinnen verkauft und vergewaltigt. Jungs ab acht Jahren wurden in Trainingslagern zu Kämpfern ausgebildet. Der UNO-Menschenrechtsrat verurteilte die Verbrechen des IS an den Jesiden später als Völkermord.

Heute, mehr als vier Jahre später, gilt der IS im Irak offiziell als besiegt, und auch in Syrien gibt es nur noch ein kleines Gebiet, der in den Händen der Terrormiliz ist. Grund für US-Präsident Donald Trump, den Abzug seiner Truppen zu befehligen. Doch für die Jesiden bedeutet dieser angebliche Sieg wenig. Die Massengräber in Sindschar, in denen Tausende Männer begraben liegen, wurden bis heute nicht systematisch untersucht. Viele können daher nur vermuten, dass ihre vermissten männlichen Angehörigen tot sind. Von den Frauen und Kindern, die 2014 entführt wurden, befinden sich mehr als die Hälfte bis heute in Gefangenschaft des IS. Seit August 2017 bezeichnet der UNO-Menschenrechtsrat den Genozid daher als „andauernd“.

In Tallus Familie sind 42 Mitglieder noch immer verschollen. 12 Angehörige kaufte Tallu mithilfe von Schleppern frei. Insgesamt 35 kehrten im Laufe der vergangenen vier Jahre zurück. Einigen war die Flucht gelungen, darunter auch seine Tochter Aschwak, die nach ihrer Flucht aus den Fängen des IS nach Deutschland kam und im vergangenen Sommer für Schlagzeilen sorgte, weil sie hier nach eigenen Aussagen ihrem Peiniger vom IS begegnet war. Sie kehrte freiwillig in den Irak zurück. Die Frauen und Kinder, die sich bis heute in Gefangenschaft befinden, werden in Syrien vermutet. Einige könnten auch in der Türkei sein, weil ihre Peiniger vom IS dorthin geflohen sind und „ihre“ Jesiden mitgenommen haben. Und es kursieren Gerüchte, dass ein Teil der Jesiden, zusammen mit IS-Familien als Flüchtlinge getarnt, in den Unterbringungslagern rund um Mossul und in Nordsyrien ausharren. Doch dafür gibt es keine Belege.

Bei der Suche nach ihren Vermissten sind die Familien auf Schlepper angewiesen. Einer von ihnen ist Abdullah Schrim. Früher hat er als Imker gearbeitet, eine Zeit lang auch als Händler in Aleppo. Doch als der IS Sindschar überrannte, habe sich sein Leben fundamental geändert, erzählt er, während er auf einer Matratze in einem Haus außerhalb der kurdischen Stadt Dohuk sitzt.

Ins Geschäft der Jesiden-Befreiung rutschte er zufällig. Auch Schrim hat Angehörige, die sich in Gefangenschaft des IS befinden. Seine Nichte Marwa rief ihn im November 2014 an und bat um Hilfe. Sie war zu dem Zeitpunkt bei einem IS-Kämpfer in der syrischen Stadt Rakka gefangen. Zusammen mit Bekannten aus seinem früheren Leben in Aleppo gelang es Schrim, sie zu befreien. Und er machte weiter.

Vielvölkerstaat Sunniten, Schiiten, Kurden, aber auch Christen und Jesiden leben im Irak, letztere im hell-orange eingefärbten Gebiet (s.Karte).

Terrormiliz Ab 2014 wurden Teile des Iraks vom „Islamischen Staat“ besetzt. Er vertrieb rund 3,2 Millionen Menschen, wurde aber inzwischen zurückgedrängt.

Mittlerweile habe er fast 400 Jesiden befreit, „so viele wie niemand sonst“, sagt er stolz. Die meisten davon aus Syrien. Um die Frauen her­auszuschmuggeln, arbeitet Schrim mit einem Netzwerk an Leuten zusammen, die sich im IS-Gebiet oder auf dem Weg in den Irak befinden. Denn selbst, wenn ein Kämpfer beschließt, „seine“ Jesidin für ein paar Tausend Dollar zu verkaufen, muss sie noch an den Checkpoints des IS vorbei. „Die meisten, die mit mir an vorderster Front in den IS-Gebieten arbeiten, sind Frauen“, sagt Schrim. Ansonsten will er keine Details über seine Arbeit preisgeben.

Viele Jesiden fühlen sich im Stich gelassen. Hadschi Hamid Tallu ließ im vergangenen Dezember einen Brief ins Englische übersetzen und schickte ihn an verschiedenen Hilfsorganisationen. Darin bittet er um finanzielle Unterstützung, um seine übrigen Verwandten aus der Gefangenschaft befreien zu können.

Die einzige staatliche Einrichtung, die sich für die Befreiung der Jesiden einsetzt, ist ein Büro der kurdischen Regionalregierung in Dohuk. Es wurde 2014 ins Leben gerufen und übernimmt in der Regel die Bezahlung des Lösegelds – meist mehrere Tausend Dollar. Allerdings beklagen sowohl Tallu als auch andere, dass sie die Kosten für die Befreiung ihrer Verwandten am Ende häufig selbst tragen müssen – weil das Büro kein Geld mehr hatte. Dafür verschuldeten sie sich bei Freunden und Verwandten.

Aber auch der Vorsitzende des Büros, Hussein Qaidi, klagt: „Niemand unterstützt uns“, sagt er, „weder die UNO noch irgendeine Regierung.“ Er wünscht sich mehr Aufmerksamkeit für das Schicksal der vermissten Jesiden. „Für Haider al-Abadi (ehem. irakischer Ministerpräsident, d. Red.) mag der IS im Irak besiegt sein. Für all jene, die noch in Gefangenschaft sind, ist er es nicht.“

Eigentlich sei die irakische Regierung verantwortlich, das Leben der Bürger zu schützen, und somit indirekt auch verpflichtet, sich um den Verbleib der Vermissten zu kümmern, sagt Belkis Wille, Verantwortliche für den Irak bei Human Rights Watch. „In einem ersten Schritt müssten die Massengräber untersucht werden.“ Die über 60 Massengräber sind bis heute unberührt und ungesichert. Die sterblichen Überreste müssten geborgen und die Toten identifiziert werden. Erst wenn klar sei, wie viele Jesiden tot sind, könnte die Regierung in Bagdad Ermittlungen über den Verbleib aller anderen veranlassen.

Doch die Verantwortung für die Untersuchung der Massengräber teilen sich die Behörden der irakischen Zentralregierung in Bagdad mit der kurdischen Autonomieregierung in Erbil. Das entsprechende Gesetz stammt aus dem Jahr 2006. Es ist zugeschnitten auf die Aufarbeitung der Verbrechen des Saddam-Regimes, dessen Opfer zumeist Kurden waren. Daher wurde die gemeinsame Zuständigkeit gesetzlich festgehalten. Dies erweist sich nun als Hindernis. Bis heute konnten sich Bagdad und Erbil nicht auf ein Vorgehen einigen. Keiner will dem anderen die Führung in den Untersuchungen überlassen – weil beide Parteien Anspruch auf den Distrikt Sindschar erheben.

Für Angehörige wie Hadschi Hamid Tallu, die weiter mit der Ungewissheit leben, ob ihre Vermissten irgendwann noch zurückkommen, ist das zermürbend. Und auch für die Aufarbeitung des Völkermords an den Jesiden durch den IS kann dies Folgen haben: Je länger die Massengräber unberührt bleiben, desto schwieriger wird es, mögliche Kriegsverbrechen nachzuweisen.

Nadia Murad, jesidische Aktivistin, IS-Überlebende und seit vergangenem Jahr Friedensnobelpreisträgerin, forderte jüngst bei einem Treffen mit dem irakischen Präsidenten ein Sonderteam zur Aufklärung. Geschehen ist seither nichts.