Land der zwei Präsidenten

Offener Machtkampf in Venezuela: Der Oppositionelle Juan Guaidó erklärt sich zum Interimspräsidenten. Viele Staaten erkennen ihn als solchen an – die USA binnen Minuten. Staatschef Maduro spricht von einem Putschversuch

… wie auch Unterstützer des chavistischen Staatschefs Foto: Luis Robayo/afp

Von Jürgen Vogt, Buenos Aires

Venezuelas Opposition hat die Machtfrage gestellt. Am Mittwoch erklärte sich der Parlamentspräsident Juan Guaidó zum Übergangspräsidenten. „Ich schwöre, offiziell die nationale Exekutivgewalt als amtierender Präsident von Venezuela zu übernehmen“, sagte Guaidó in Caracas vor einer jubelnden Menschenmenge. Er kündigte an, die aus seiner Sicht gesetzwidrige Machtübernahme von Staatspräsident Nicolás Maduro zu beenden, eine Übergangsregierung zu bilden sowie freie Wahlen abhalten zu lassen.

Guaidós Eid war der Höhepunkt der wieder aufgeflammten Demonstrationen gegen Präsident Maduro, zu denen die Opposition aufgerufen hatte und bei denen landesweit Zehntausende auf die Straßen gingen. Bei den Protesten kamen mindestens 16 Menschen ums Leben, teilte die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte CIDH mit. Der Menschenrechtsorganisation Foro Penal zufolge sind 278 Menschen festgenommen worden.

Die größte Demonstration fand in der Hauptstadt Caracas statt. Aus mehreren Richtungen waren die Protestierenden zur Plaza Juan Pablo II gezogen. Hier legte Guaidó am frühen Nachmittag den Eid ab und überraschte damit offensichtlich die Regierung. Diese hatte zwar ebenfalls ihre Anhängerschaft mobilisiert und auf der Straße versammelt, sie änderte aber kurz nach Guaidós Eid die Demonstrationsroute. Statt wie vorgesehen zur Plaza O’Leary im Zentrum der Hauptstadt zu marschieren, wurden die Demonstrierenden zum Präsidentenpalast Miraflores umgeleitet, um Maduro und die „Bolivarische Revolution“ zu schützen.

„Kommen auch Donner und Blitz, wir müssen für ganz Venezuela regieren“, rief Maduro vom sogenannten „Balkon des Volkes“. Minuten später erkannte US-Präsident Donald Trump Guaidós Interimspräsidentschaft an, zuvor hatten die USA Unterstützung zugesichert. Danach trafen im Minu­tentakt Stellungnahmen aus anderen Staaten ein: Brasilien, Paraguay, Kolumbien, Chile, Peru, Argentinien, Guatemala, Costa Rica, Panama und Ecuador erkannten Guaidó ebenfalls an. Russlands Präsident Wladimir Putin reagierte nahezu ebenso schnell wie Trump und sicherte Maduro die volle Unterstützung zu. Auch die Verbündeten Maduros, Bolivien, Kuba, Nicaragua, sowie China und die Türkei stellten sich auf die Seite der venezolanischen Regierung.

Die imperialistische US-Regierung will eine Marionetten-Regierung in Venezuela einsetzen

Staatspräsident Maduro

Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini forderte am Donnerstag sofortige freie und glaubwürdige Wahlen. Die Sicherheit und Rechte von Guai­dó und den anderen Abgeordneten sollten respektiert werden und die EU stehe bereit, um eine Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen. Die EU-Kommission vermied es jedoch, den selbst ernannten Präsidenten Guadió explizit als legitimen Nachfolger Maduros anzuerkennen. Der französische Präsident Emmanuel Macron sprach von einer „illegitimen Wahl“ bei Amtsinhaber Maduro. Auch die Bundesregierung sprach sich für „freie und glaubwürdige Wahlen“ aus (siehe Spalte rechte Seite).

Guaidós Machtanspruch ist der vorerst letzte Höhepunkt eines Streits zwischen Exekutive und Legislative, dessen Anfänge bereits vier Jahre zurückliegen. Bei den Parlamentswahlen 2015 hatte die rechte Opposition eine Zweidrittelmehrheit errungen. Doch kaum hatte sich die Nationalversammlung Anfang 2016 konstituiert, sprach der regierungsfreundliche Oberste Gerichtshof mehreren Abgeordneten die Rechtmäßigkeit ihrer Mandate ab. Dies wiederum wurde vom Parlament nicht akzeptiert, woraufhin die Obersten Richter die Unrechtmäßigkeit des gesamten Parlaments feststellten, ­dessen sämtliche Beschlüsse nichtig seien. Deshalb ignoriert Staatspräsident ­Maduro die Nationalversammlung einfach. Und solange die Militärs hinter ihm stehen, sitzt Maduro am längeren Hebel (siehe Interview rechte Seite). Am Donnerstag hatte Verteidigungsminister Vladimir Padrino erneut klar gemacht, dass die Streitkräfte auf Seiten der Maduro-Regierung stünden. Den Amtseid des selbst ernannten Präsidenten bezeichnete Padrino als „unverschämt“ und „sehr gefährlich“, sagte er auf einer Pressekonferenz mit Militärs höheren Ranges.

Der Streit zwischen den Gewalten eskalierte erstmals im Juli 2017. Nach mehr als 100 Protesttagen mit über 90 Todesopfern ließ sich Maduro mit der Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung ein eigenes Parlament wählen. Zuvor hatten rund 6,4 Millio­nen Wahlberechtigte in einem von Parlament und Opposition veranstalteten Referendum gegen eine solche Versammlung gestimmt. Doch die Proteste flauten ab, und in Venezuela tagen seither zwei Versammlungen. Ähnliches geschah mit der Justiz. Seither gibt es neben dem regierungshörigen Obersten Gerichtshof in Caracas auch noch einen im Nachbarland Kolumbien, den ins Exil geflohene RichterInnen gegründet hatten.

Ausnahme­zustand in Venezuelas Hauptstadt Caracas: Am Mittwoch gingen sowohl Gegner von Präsident Maduro auf die Straße … Foto: Roman Camacho/SOPA Images/LightRocket/getty images

Am 10. Januar, mit der Vereidigung Maduros für eine zweite Amtszeit, hat sich der Streit nun wieder neu entzündet. Die rechte Opposition hatte an der Präsidentschaftswahl im Mai vergangenen Jahres nicht teilgenommen und ihr Ergebnis als Resultat von Fälschung und Betrug abgelehnt. Für ihre Abgeordneten in der Nationalversammlung ist der Amtsantritt Maduros illegitim. Darauf hat Juan Guaidó bereits fünf Tage zuvor hingewiesen.

Am 5. Januar wurde der 35-Jährige zum Präsidenten der Nationalversammlung gewählt. Guaidó gehört der Voluntad Popular an, einer der radikalsten Oppositionsparteien. In seiner Antrittsrede stellte er klar, dass das Parlament die einzige legitime gewählte Institution sei und eine zweite Amtszeit von Nicolás Maduro nicht anerkennen werde. Als Maduro dennoch am 10. Januar vor dem Obersten Gerichtshof den Amtseid ablegte, war dies für die Nationalversammlung ein verfassungswidriger Akt. Bei der Übernahme der Interimspräsidentschaft berief sich Guaidó auf Artikel 233 der Verfassung, wonach bei einer „völligen Abwesenheit“ des Staatspräsidenten der Parlamentspräsident das Amt vorüber­gehend übernehmen müsse.

Kaum hatte sich die US-Regierung hinter Guaidó gestellt, reagierte Nicolás Maduro mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen. „Die imperialistische US-Regierung will eine Marionettenregierung in Venezuela einsetzen. Ich habe entschieden, die diplomatischen und politischen Beziehungen zur imperialistischen Regierung der Vereinigten Staaten abzubrechen“, sagte er. Das US-Botschaftspersonal habe 72 Stunden Zeit, um das Land zu verlassen, so Maduros Ultimatum.

Bisher Stütze und Profiteur von Maduros Regierung: die Streitkräfte Foto: Fernando Llano/ap

All das erklärte Interimspräsident Guaidó mit einer seiner ersten Amtshandlungen für nichtig. Zustimmung kam prompt von US-Außenminister Mike Pompeo. Maduro habe gar nicht die rechtliche Befugnis, diplomatische Beziehungen zu den USA abzubrechen, und die US-amerikanischen Diplomaten würden in Venezuela bleiben.

Das Diplomatengerangel gibt eine Vorahnung auf weiteres Konfliktpotenzial. Wenn das Militär Maduro weiter als legitimen Präsidenten betrachtet, müsste es das US-Botschaftspersonal nach Ablauf der Frist zur Ausreise zwingen. Unklar ist auch, wer nun Zugriff auf Venezuelas Staatsvermögen im Ausland hat. Stichwort Citgo, die US-Filiale der staatlichen Ölfirma PDVSA, die mit ihren Raffinerien und ihrem Tankstellennetz in den USA ein enorm wichtiger Devisenbringer für Maduro ist. Sollte Interimspräsident Guai­dó anordnen, dass keine Dollars mehr in Maduros Staatskasse fließen sollen, müssten die US-Behörden Folge leisten.

Interimspräsident Guaidó hat zwar Unterstützung aus dem Ausland, aber die innenpolitische Stütze Maduros, das Militär, wankt nicht. Um es auf seine Seite zu ziehen, kündigte Guaidó ein Amnestiegesetz an, das die Nationalversammlung bereits am Wochenende beschließen könnte. Was Verteidigungsminister Padrino davon hält, hat er auf Twitter klar gemacht: „Die Soldaten des Vaterlandes akzeptieren keinen Präsidenten, der von dunklen Mächten eingesetzt wird oder sich abseits des Rechts selbst einsetzt.“