Opferschutz in Deutschland: Protokolle der Gewalt

Claudia Bormann sichert Spuren häuslichen Missbrauchs. Ärztinnen wie sie sind selten. Forensische Pflegerinnen und Pfleger könnten die Lücke füllen.

Eine Frau nimmt einen Zettel aus einem Regal

Für viele Opfer ist Claudia Bormann der erste Mensch, dem sie von ihrem Martyrium erzählen Foto: David Gutensohn

Wenn Claudia Bormann im Gerichtssaal sitzt, liest sie blaue Flecken. Ihre Worte können dann über „schuldig“ oder „unschuldig“ entscheiden. Als Gutachterin beurteilt sie, ob das Hämatom zu dem passt, was Opfer und Täter erzählen. Die Größe, die Länge, vor allem die Farbe ist wichtig. Ist es blaugrau, ist die Tat noch frisch. Gelb spricht für ein paar Tage Abstand. Ist das Foto verwackelt, bleibt ihr Urteil aus.

Nur wenn gut dokumentiert wurde, kann Bormann aussagen. Dann beurteilt sie, ob ein Sturz oder Schlag plausibel ist. Ob das Opfer mit einem Gegenstand geschlagen wurde. Ob es sich gewehrt haben kann. Ist von einem Messer die Rede, aber keine Schnitt- oder Stichwunde dokumentiert, stimmt etwas nicht.

Bormann ist blond, klein, wortgewandt. Sie kann stundenlang von Schürfwunden erzählen und lächelt trotzdem. Meistens wird sie bei Fällen häuslicher Gewalt als Gutachterin berufen. Oft sind die Protokolle mangelhaft. Wenige Ärzte und Pfleger sind geschult darin, Gewalt zu dokumentieren. Bormann will das ändern.

2017 gab es in Deutschland 138.893 Anzeigen wegen Gewalt in der Partnerschaft. „Diese Zahlen sind schockierend, denn sie zeigen: Für viele Frauen ist das eigene Zuhause ein gefährlicher Ort“, sagte Familienministerin Franziska Giffey bei der Vorstellung der Kriminalstatistik. In 82 von 100 Partnerschaftsdelikten sind die Opfer weiblich. Die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher. „Viele fürchten sich, Anzeige zu erstatten“, sagt Bormann.

Nur jede fünfte Frau, die Gewalt erlebt, geht zur Polizei. Da setzen Bormann und ihre Kollegen an. Wenn sie nicht vor Gericht interpretieren, dokumentieren sie Gewalt. Am Münchner Institut für Rechtsmedizin arbeiten sie in einer der wenigen Gewaltopferambulanzen Deutschlands. Dort können Frauen Spuren sichern lassen, bevor sie verblassen. Eine Anzeige müssen sie nicht erstatten.

Kriminalistik hat Bormann immer interessiert, ihr Vater war bei der Mordkommission

An der Wand klebt ein Sticker mit der Aufschrift „Du bist nicht allein“. Dazu ein gynäkologischer Stuhl, eine Liege, beides in hellem Orange. Im Schrank liegen Lineale, Wattestäbchen, blaue Plastikhandschuhe. Daneben ein Regal mit Dokumentationsbögen, dem Herzstück der Arbeit klinischer Rechtsmediziner. Melden sich Gewaltopfer bei der Münchner Ambulanz, ist das der Ort, an dem sie auf Bormann treffen. Hier erzählen sie oft zum ersten Mal von ihrem Leid: Ehefrauen, die wiederholt geschlagen wurden. Studentinnen, die von ihrem Partner vergewaltigt wurden. Menschen, die darauf angewiesen sind, dass Bormann das Schlimme festhält. Um es ahnden zu können. Um es in Zukunft verhindern zu können.

„In Bayern sind wir die Einzigen, die das anbieten“, sagt Bormann. Bundesweit sieht es nicht besser aus. 34 Gewaltopferambulanzen gibt es, davon einige nur für Kinder, kaum eine hat an den Wochenenden geöffnet. Der Weiße Ring, Deutschlands größte Opferhilfeorganisation, sieht durchaus „einen bundesweiten Mangel an Gewaltopferambulanzen“.

Auch Thomas Bajanowski, Präsident der deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin, sagt: „Gewaltopferambulanzen kosten Geld. Die dort erbrachten ärztlichen Leistungen können oft nicht über die Krankenkassen abgerechnet werden.“ Doch es fehlt nicht nur am Geld, sondern auch an Rechtsmedizinern, die Gewaltambulanzen leiten könnten. Gerade einmal „260 Ärzte arbeiten an rechtsmedizinischen Instituten. Davon die wenigsten in Vollzeit in der klinischen Rechtsmedizin“, sagt Bajanowski.

Auch Bormann ist nur durch Zufall klinische Rechtsmedizinerin geworden. Erst arbeitete sie als Verlagskauffrau bei der Süddeutschen Zeitung, entschied sich dann aber doch für ein Medizinstudium. Lange wollte sie Frauenärztin werden. Ihre Doktorarbeit führte sie dann an das Institut für Rechtsmedizin. Dort erhielt sie das Angebot, ein Projekt zur Gewalt gegen Frauen zu leiten und an der Entstehung einer Gewaltopferambulanz mitzuwirken. Kriminalistik hatte sie schon immer interessiert, ihr Vater war bei der Mordkommission.

Und heute sichert sie Spuren, die in Ermittlungen einfließen. „Ich dokumentiere alles.“ Mit den Händen zählt sie die Schritte der Untersuchung nach. Fingerspitze auf Fingerspitze. Neun Seiten umfasst der Dokumentationsbogen. Er beginnt mit den Personalien und der Vorgeschichte. Nimmt das Opfer Medikamente, verhält es sich ängstlich oder schüchtern? Bormann kreuzt an. Die Patientin entkleidet sich, erst oben, dann unten. „Wir wollen grundsätzlich den ganzen Körper untersuchen. Das ist wichtig für die Glaubwürdigkeit vor Gericht“, sagt Bormann.

Eine Frau sitzt auf einer Untersuchungsliege und blättert in einem Ordner. Sie lächelt

Bormann kann lange von Schürfwunden erzählen und lächelt trotzdem Foto: David Gutensohn

Nicht selten entdeckt die Rechtsmedizinerin wunde Stellen, die selbst dem Opfer nicht aufgefallen sind. Wie wurde das Opfer geschlagen? Mit einem Gegenstand? Hat es sich versucht zu schützen? Mit der Faust? Oder mit der flachen Hand? Bormann notiert. Sie sagt, dass sie emotional damit umgehen kann, Opfer kurz nach schwersten Gewalttaten zu untersuchen. Das kühle bürokratische Papier, die durchgetakteten Abläufe, sie ermöglichen Distanz zum Gesehenen.

Kommt es zum Prozess, kann jedes Detail entscheidend sein. Auch deshalb nimmt Bormann Proben: Abriebe der Haut, Abstriche, Blut und Urin. Jede Verletzung, jedes Hämatom hält sie fotografisch fest. Dann kommt das kleine rechtwinklige Lineal zum Einsatz. Es soll die Größe des Hämatoms messen. Jedes Detail trägt Bormann ein, auf Blättern mit Skizzen menschlicher Körper markiert sie die verletzten Stellen.

Bis zu zwei Stunden lang kann eine Untersuchung dauern. Manche Frauen wollen es schnell hinter sich bringen, andere nutzen den Raum, um endlich von ihrem lebenslangen Leidensweg erzählen zu können. Bormann ist dann Ärztin und Sozialarbeiterin zugleich. Sie tröstet, setzt sich gemeinsam mit den Frauen an den Computer und sucht nach Frauenhäusern, meistens rät sie zur Anzeige. Zwei Jahre lang haben die Opfer dazu Zeit. Solange werden der Bogen und die Beweismittel gelagert. Manche Frauen kommen immer wieder. Doch Bormann ist niemand, der daran verzweifelt. Sie weiß, dass ohne die Schweigepflicht viele Frauen gar nicht oder zu spät nach einer Tat zur Spurensicherung kommen würden.

Aufgrund der fehlenden Gewaltopferambulanzen sind die meisten Frauen auf Haus- oder Klinikärzte angewiesen. Nur die wenigsten von ihnen sind geschult darin, Spuren zu sichern. „Im gesamten Medizinstudium ist nur eine Dreiviertelstunde Unterricht in Gewaltdokumentation vorgesehen“, sagt Bormann. Spricht sie über diese Lücke im System, verschwindet ihr Lächeln für einen Moment.

Rechtsmediziner*innen wie sie haben hingegen gelernt, Verletzungen zu erkennen und zu beschreiben. Und zwar nicht in Latein, sondern auf Deutsch, der Sprache, die vor Gericht entscheidend ist. „Wir können das, weil wir den ganzen Tag nichts anderes machen“, sagt Bormann. „Hausärzte achten nicht auf kleine Hämatome.“ Oft übersehen sie Stellen oder verfassen Berichte, die zu oberflächlich sind, um vor Gericht einen Nutzen zu haben. Sie stehen unter Stress. Im Wartezimmer drängeln andere Patienten. Die Notaufnahmen sind überlastet. Bormann hat Verständnis. Deshalb will sie handeln.

Pflegekräfte könnten Wunden dokumentieren

„Wir bieten an, unser Wissen weiterzugeben“, sagt Bormann. Sie und ihre Kollegen sind deshalb neue Wege gegangen. 2017 starteten sie das deutschlandweit erste Pilotprojekt zur Ausbildung sogenannter Forensic Nurses. Die Idee: Pflegekräfte sind fester Bestandteil von Notaufnahmen. Ärzte rotieren, Pfleger bleiben. Niemand hat intensiveren Kontakt zum Patienten. Niemand ist besser geeignet, um im stressigen Alltag Spuren zu sichern.

In dem Kurs bildeten Bormann und ihre Kollegen zwölf Pflegekräfte einer Münchner Frauenklinik zu forensischen Pflegern aus. Sie schulten sie darin, Wunden zu fotografieren, den Bogen auszufüllen, Proben zu entnehmen. Gemeinsam ­lösten sie Fälle, diskutierten rechtliche Grundlagen und lernten Beweismittel richtig aufzubewahren. In den USA arbeiten Forensic Nurses schon seit den 80er Jahren. In der Schweiz gibt es den europaweit ersten Stu­diengang, der sie ausbildet.

Bormann wünscht sich, dass künftig auch in Deutschland mehr Pflegekräfte erlernen, wie man Übergriffe dokumentiert. Protokolle der Gewalt, die dann vor Gericht von Rechtsmedizinerinnen wie ihr interpretiert werden. „Jedes Mal, wenn ich als Gutachterin berufen werde, bete ich für ein gutes Protokoll“, sagt Bormann.

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