Der Gleichmut des Blicks eines Gottes

Distanziert, weit weg von uns zu sein scheint die „Junge Dame mit Perlenhalsband“ in der Berliner Gemäldegalerie. Jan Vermeer blickte wie eine Kamera auf seine Gegenstände

Von trübem Tageslicht beleuchtet, das wie eine ätherische Wolke in den Raum hineinströmt. Jan Vermeer van Delft: „Junge Dame mit Perlenhalsband“, um 1662/1665 Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie/Christoph Schmidt

Von Tal Sterngast

Als er von seinem Besuch in Holland im Jahr 1874 berichtete, hielt Henry James ganz im Stil der Betrachtung niederländischer Kunst im 19. Jahrhundert fest: „Wenn man die Kopien betrachtet, scheint man die Originale anzuschauen. Handelt es sich um die Seite eines Kanals in Haarlem oder ist es ein Van der Heyden? Die Dienstmädchen auf der Straße scheinen einem Rahmen von Gerard Dow entsprungen und gleichermaßen bereit zu sein, auch wieder in ihn hinein zu treten. Wir müssen eine sehr besondere Brille aufsetzen und uns über unsere Aufgabe beugen und doch bleiben wir, jenseits unseres Bewusstseins darüber, dass unsere Ausbeute der Wirklichkeit entspringt, zweifelsohne ratlos, wie wir diese Gestalten klassifizieren sollen.“

Henry James war nicht der Einzige, der damit kämpfte, niederländische Gemälde von den Gegenständen zu unterscheiden, die sie zu imitieren suchten. Goethe beschrieb in „Dichtung und Wahrheit“, wie er nach einem Besuch in der Dresdener Gemäldegalerie in die Werkstatt des Schusters zurückkehrte, bei dem er wohnte: „Als ich bei meinem Schuster wieder eintrat, um das Mittagsmahl zu genießen, trauete ich meinen Augen kaum: denn ich glaubte ein Bild von Ostade vor mir zu sehen. Stellung der Gegenstände, Licht, Schatten, bräunlicher Teint des Ganzen, magische Haltung, alles, was man in jenen Bildern bewundert, sah ich hier in der Wirklichkeit.“

In Dresden konnte Goethe ein bräunliches Gemälde von Adriaen van Ostade sehen, „Der Maler in seiner Werkstatt“. In der Gemäldegalerie hätte unser guter Goethe aber auch zwei Bilder aus Johannes Vermeers bescheidenem Œuvre bewundern können – 36 Gemälde sind es insgesamt. Rembrandt hat allein doppelt so viele Selbstporträts gemalt. In Dresden hingen Vermeers Bilder „Bei der Kupplerin“ und „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“, die August III von Sachsen im Jahr 1741 erworben hatte.

Die beiden Dresdener Bilder von Vermeer ähneln auf den ersten Blick jenen beiden Gemälden, die sich in der Berliner Gemäldegalerie befinden. Das „Brieflesende Mädchen“ aus Dresden findet seine Entsprechung in der „Jungen Dame mit Perlenhalsband“, die sich ungeschützt in einem intimen Moment mit sich selbst zeigt, während sie von trübem Tageslicht beleuchtet wird, das wie eine ätherische Wolke in den Raum hineinströmt. Die „Junge Dame mit Perlenhalsband“ gehört jedoch schon in eine andere Phase von Vermeers Entwicklung als das „Brieflesende Mädchen“. Sie wurde fast eine Dekade später gemalt.

Wir wissen nicht, ob Goethe den Dresdener Bildern Vermeers seine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Wir wissen aber, dass die Begründer der Sammlung, die sich in der Berliner Gemäldegalerie befindet, im 19. Jahrhundert ihre persönlichen Interessen mit ihrem päda­gogischen Auftrag in Einklang zu bringen versuchten, als sie sich daran machten, eine repräsentative Sammlung für Preußen zusammenzustellen. Sie zogen Rembrandt Vermeer vor und gaben sich deswegen keine Mühe, weitere der so raren Werke des niederländischen Meisters zu erwerben.

Die „Junge Dame mit Perlenhalsband“ zeigt eine hellhäutige junge Frau, die ihre Arme hebt, um sich ein Perlenhalsband anzulegen. Wie eine feminine Säule füllt sie die rechte Seite der eher kleinen Leinwand. Ihre goldgelbe Robe, in deren Farbe wir ein visuelles Echo des zur Seite gezogenen Vorhangs sehen, umfängt sie genauso wie die leuchtende, zu atmen scheinende Wand, die den meisten Raum des Bildes einnimmt. Es ist dasselbe verschleierte Tageslicht, das wir aus allen Bildern Vermeers kennen und das den Raum wie ein eigenständiger Protagonist bewohnt.

Die Berliner Gemäldegalerie beherbergt eine der bedeutendsten Sammlungen euro­päischer Malerei vom 13. bis 18. Jahrhundert.

In der taz-Serie „Alte Meister“ stellt die Künst­lerin und Autorin Tal Sterngast einzelne Werke aus der Sammlung vor.

Die Frau scheint weniger ihr Bild im an der Wand hängenden Spiegel zu betrachten, als sich vielmehr dem Fenster und dem hereinflutenden Licht zuzuwenden. Fenster und Spiegel verweisen hier auf die beiden Möglichkeiten, ein Gemälde zu interpretieren. Ist es eine Reflexion, „specula“, wie Sokrates meinte? Oder ein Fenster, wie Alberti vorschlug? Allegorie und Analogie, Symbol und Naturähnlichkeit, sind im Gemälde miteinander verschränkt. Unbeweglich und beleuchtet strahlt die Frau, als ob ihr Antrieb, ihr ganzes Sein und ihr Vorhaben, das sich in ihrem Habitus zeigt – rote Schleife im Haar, Perlenohrringe und Hermelin –, vom einfallenden Licht abhinge.

Man könnte auf die Idee kommen, dass ihre Existenz den einzigen Zweck erfüllt, deutlich zu machen, wie Licht auf Gegenstände fällt. Gegen ihre weibliche Vertikalität, die so fest im Boden verankert scheint, stehen in der unteren Hälfte des Bilds die scharfe horizontale Kante eines Tischs und ein leerer Stuhl, die so eine visuelle Barriere bilden, die den Maler und uns Betrachter von dem trennen, was wir sehen. Das ist ein wiederkehrendes Motiv bei Vermeer, der Stühle, Tische und schließlich sogar sich selbst in seinem Bild „Die Malkunst“ im Vordergrund platziert, um uns auf Distanz zu halten zu dem, was wir sehen und vielleicht begehren. Der Künstler dringt in die Privatheit seiner Figur mit der Perlenkette ein, und doch ist sie vollständig – getrennt und außerhalb seines Zugriffs. Sie ist das völlig Andere.

Die irdische Dame in unserem Bild könnte eine Transfiguration einer Venus sein, einer badenden Diana oder von Batseba, die sich im Bad auf ein Treffen mit dem König vorbereitet. Doch obwohl ihre Reinigungsutensilien eine Allegorie auf die Reinigung der Seele sein könnten, sind sie doch letztlich profan. Auf dem Holztisch unterm Spiegel schimmert ein silbernes Becken wie eine Perle. Ein kleine Bürste, deren Haare man womöglich zählen könnte, liegt neben einem Kamm und sieht dabei so beiläufig real aus, das man sie in die Hand nehmen möchte.

Anhand der Bilder von Vermeer können wir verstehen, warum das von Henry James und Goethe formulierte Problem der Verwechslung von Bild und Leben – wo ist die Kunst? – wahrscheinlich auf einer falschen Frage beruht. Joshua Reynolds, Eugène Fromentin und viele andere artikulierten ihre – enthusiastisch begrüßte oder mit Ablehnung vorgebrachte – Verlegenheit angesichts des „deskriptiven“ Charakters der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts und der Schwierigkeit, sie einzuordnen. Diese vor-technologische Bildkonfusion begegnet uns heute in einer anderen Form. Wenn sich Bilder oder Gemälde an der Schwelle zwischen der physischen Welt und unserer Wahrnehmung befinden, mit welcher Kunst haben wir es dann zu tun? Wo ist die Kunst?

Der Vermeer-Biograf John Michael Montias spekulierte darüber, ob und wie man Vermeers Versuch, die Welt der sichtbaren Erscheinungen zu fälschen, mit dem Versuch in Verbindung bringen könnte, in großem Stil Geld zu fälschen. In einen solchen Versuch war zwölf Jahre vor der Geburt des Malers beinahe die gesamte Familie Vermeers verwickelt gewesen.

In der Tat ist Vermeers Distanziertheit ein Weg, unpersönlich zu sein. An keiner Stelle, nirgends in seinen Bildern verrät er etwas über sich: Ist er gehörlos, fühlt er sich der Philosophie von Spinoza oder von Descartes verpflichtet? Seine Distanziertheit ist idiosynkratisch, und doch nimmt sie den aufs menschliche Auge zielenden Impressionismus und sogar die Fotografie vorweg: Vermeer scheint nicht zu wissen oder nicht wissen zu wollen, was er malt. Die Welt der Begriffe, die davon handelt, was etwas ist, ein Finger, eine Nase, ein Tisch, verwandelt sich in eine Abbildung, die sich nur dem Licht verpflichtet fühlt, das auf diese Dinge fällt.

Dieser Gleichmut des Blicks selbst einer obskuren Repräsentation von Objekten gegenüber, an die wir uns heute durch die Fotografie gewöhnt haben, muss seinen Zeitgenossen als exzentrischer Stil erschienen sein. Vermeers Blick ist der einer Maschine oder eines Gotts.

Dieser Blick macht die Frage überflüssig, ob der Maler, der von optischen Apparaten fasziniert war, beim Herstellen seiner Gemälde womöglich eine Camera obscura nutzte, weil ihn an den optischen Instrumenten vor allem ihre Herangehensweise interessierte. Die Nichtbeachtung Vermeers als eines der großen Meister der Malerei über lange Zeit hinweg wurde schließlich zum Beweis für seine Modernität. „Wir gehen zu ihm“, schrieb Gustave Vanzype in ­einer 1908 erschienenen Monografie, „weil ihn eine Art mysteriöser Vorausschau sehen ließ, wie wir sehen, und eine Empfindsamkeit ihn verstehen, spüren und vorwegnehmen ließ, was sich erst zwei Jahrhunderte nach ihm entwickeln würde.“

Marcel Proust besaß ein Exemplar von Gustave Vanzypes Buch. Eine seiner Figuren in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ lässt Proust zusammenbrechen und sterben, während sie Vermeers „Ansicht von Delft“ betrachtet – als vollendeten Akt, über ein Gemälde zu schreiben.