Tunesien: Europas freier Markt am Mittelmeer?

Brüssel, Paris und Berlin unterstützen den Übergang zur Demokratie in Tunesien – und drängen das Land, seinen Markt für EU-Unternehmen zu öffnen

Aus Tunis Sofian Philip Naceur

Tunesien, der demokratische Leuchtturm Nordafrikas: Auch zehn Jahre nach der Revolution gilt das Land weiter als einzige Erfolgsgeschichte des sogenannten Arabischen Frühlings – nicht ganz zu Unrecht. Seit dem Sturz von Ex-Diktator Ben Ali im Januar 2011 hat Tunesien eine beachtliche Entwicklung hingelegt – trotz der desaströsen sozialen und wirtschaftlichen Lage, politischer Turbulenzen und herber Rückschläge wie den noch nicht aufgeklärten Morden an den Linkspolitikern Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi 2013 sowie den Terroranschlägen von 2015.

In Europa rühmt man sich damit, dass die EU und einzelne Regierungen Tunesien seit 2011 massiv unter die Arme gegriffen und den Übergang politisch und wirtschaftlich unterstützt haben, so jedenfalls das Narrativ europäischer Offizieller. Ein genauerer Blick zeigt jedoch: Der EU ging es auch um eigene wirtschaftliche Interessen sowie darum, Migrant*innen von der Überquerung des Mittelmeers abzuhalten.

Europa hat seit 2011 umfangreiche Hilfs-, Förder- und Kreditprogramme zugunsten Tunesiens aufgelegt, um den Übergang zu einem demokratischen System zu unterstützen. Der Zivilgesellschaft wurde mit Fördergeldern unter die Arme gegriffen, Wirtschaftsreformen wurden angestoßen. Mit Entwicklungshilfeprojekten sollte die soziale Lage verbessert werden.

Neben Projekten zu Demokratie- und Frauenförderung wurden auch Mittel für die Reform staatlicher Institutionen und Umwelt-, Bildungs- und Kulturprogramme bereitgestellt. Allein im Rahmen der EU-Nachbarschaftspolitik (ENP) wurden seit 2011 fast drei Milliarden Euro nach Tunesien transferiert. Zusätzlich stehen bilaterale Entwicklungsprojekte, Darlehen und Kredite mehrerer EU-Staaten zu Buche, allen voran aus Frankreich, Italien und Deutschland.

Ganz selbstlos war das alles jedoch nicht: Die EU-Hilfen zielen keineswegs ausschließlich darauf ab, den Übergang zu stützen, sondern sind Ausdruck einer knallharten Interessenpolitik. Die Deregulierung von Tunesiens Wirtschaft ist dabei ein zentrales Ziel der EU, durch die diese ihren Einfluss vor Ort zementieren will. „Die EU ist eher von Eigennutz getrieben als davon, Tunesiens wirtschaftliche Entwicklung und Exportfähigkeit voranzutreiben“, sagt Mohamed-Dhia Hammami von der tunesischen Denkfabrik Center of Strategic Studies of the Arab Maghreb.

Hammami kritisiert die EU-Politik in Tunesien seit Jahren. Tunesien werde in Wirtschaftsfragen erpresst, sagt er. „Dies findet statt, wenn Tunesien Geld braucht. Die EU nutzt diese Situation aus, um auf Reformen zu drängen, die nicht wirklich den Interessen Tunesiens dienen, aber den Markt für europäische Firmen öffnen.“ Als Beispiel nennt er das Aleca-Abkommen, das seit 2015 verhandelte Freihandelsabkommen zwischen der EU und Tunesien. Kritiker*innen befürchten, dass Tunesien durch eine weitere Öffnung des Markts von europäischen Produkten überschwemmt werde und sich von Grundnahrungsmittelimporten aus Europa abhängig mache. „Hätte es keine soziale Mobilisierung der Zivilgesellschaft gegeben, hätte Tunesiens Regierung das Abkommen schon vor langer Zeit akzeptiert“, meint Hammami. Die Verhandlungen ruhen zwar derzeit, vom Tisch ist Aleca aber keinesfalls.

Während derlei Wirtschaftsreformen Europas Vormachtstellung in Tunesien festigen sollen, verfolgen einzelne EU-Staaten ihre eigenen Interessen in dem Land. Italien will in erster Linie die irreguläre Migration eindämmen und Tunesiens Grenzregime aufrüsten. Deutschlands Ambitionen und Langzeitinteressen seien dagegen vor allem wirtschaftlich motiviert, sagt Hammami. Berlin setze auf eine schrittweise Strategie, die nicht immer sichtbar sei, so Hammami. In der Tat hat Deutschland seinen Einfluss in Tunesien massiv ausgeweitet. Tunesiens Abhängigkeit von Europa ist dadurch weiter gestiegen – im Interesse Tunesiens ist das keinesfalls, macht sich das Land dadurch doch noch erpressbarer.