Jemens Frauen kämpfen an zwei Fronten

Aktivistinnen stoßen auch in ihren eigenen Familien auf Skepsis und Widerstand. Doch ihr Wille, weiterzumachen, ist ungebrochen

Tunesien 2019: #MeToo-Protest, im tunesischen Dialekt „EnaZeda“, gegen sexuelle Belästigung Foto: Mohamed Hammi/Sipa

Von Rim Mugahed

Wenn ich heute in den Spiegel schaue, sehe ich das gleiche dünne Mädchen, das sich mit ihren Freundinnen vor den TV-Kameras versteckt – aus Angst, dass die Familien zu Hause erfahren, dass sie auf dem Platz des Wandels sind und den Sturz des Regimes fordern. Revolution, das heißt nicht nur Gewalt und wütende Massen. Revolution ist ein sehr persönliches Gefühl der Selbstlosigkeit, der Opferbereitschaft, ein absoluter Glaube, gefährliche Erregung. Revolution ist für mich heute eine quälende Erinnerung an eine Zeit, in der nichts zählte außer einer Sache: der Sache des Vaterlands.

Wie der Ruf des Muezzins war mit der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Bouazizi im Dezember 2010 der Ruf der Revolution erklungen. Ich erinnere mich, wie ich am Ofen saß in dem Bergdorf, in dem ich lebte, als die Nachricht kam, dass die Menschen in Tunesien auf die Straßen gehen. Das Schicksal wollte es, dass ich kurz darauf nach Sanaa zurückkehrte. Als ich von Ben Alis Flucht hörte, zog ich zur tunesischen Botschaft, um die erste Revolution zu feiern, derer meine Generation Zeuge geworden war.

Die Lage in Jemen war damals nicht besser als heute, auch wenn er sich mittlerweile im Krieg befindet. Am Horizont zeichnet sich heute eine Hungersnot ab. Die UNO spricht von der schlimmsten humanitären Krise der Welt. Hungernde Kinder gehen durch die sozialen Medien. 80 Prozent der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, darunter mehr als 12 Mil­lio­nen Kinder, von denen alle 12 Minuten eines stirbt, das unter 5 Jahren alt ist.

Im internationalen Vergleich standen wir schon damals unten auf der Liste. Al-Qaida hatte Befehlshaber aufgestellt; Terroristen flohen aus den Gefängnissen, wie man es nur aus Actionfilmen kennt. US-Drohnen flogen über das Land. Marschflugkörper löschten ganze Dörfer aus. Und im Norden lieferte sich die Huthi-Bewegung Kriege mit der Regierung. Der Staat hatte sich in eine Art Stamm verwandelt, und mit einer Stammesmentalität wurde er geführt.

Schnell erfasste das revolutionäre Feuer die Jugend in Jemen. Zur ersten Sitzblockade kam es in der Nacht, in der in Ägypten Husni Mubarak zurücktrat. In Sanaa veranstalteten die Demons­trie­renden ein Sit-in vor der Universität, unter einem Denkmal mit der vom Propheten überlieferten Aussage: „Der Glaube ist jemenitisch, die Weisheit ist jemenitisch“. Es war wie eine Mahnung an die Jemeniten, die stolz sind, besonders weichherzig zu sein und sich nicht in Gewalt hineinziehen zu lassen.

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Rim Mugahed ist Schriftstellerin und Soziologin. Sie wurde 1986 in einem Dorf in Taizz, Jemen, geboren und lebt heute in Tschechien.

Für Frauen war die Straße immer der schlimmste Ort gewesen. Sie waren Belästigung, ja Gewalt ausgesetzt, wenn sie einer Gruppe Männern oder Schülern begegneten. Das änderte sich, als Demonstrierende die Straßen besetzten. Es herrschte, implizit, der Grundsatz, dass wer einen Fuß auf den Platz des Wandels setzt, die Person zu sein hat, die es für die Revolution braucht.

Die Frauen traten heraus aus dem Schatten. Die Frauen, die Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt waren, zeigten unübertroffenen Mut. Und ich spreche hier nicht nur von den Anführerinnen, sondern von all jenen, die zwei Kämpfe auszutragen hatten: den Kampf der Revolution und den Kampf im eigenen Heim.

Als eine dieser Frauen kann ich sagen: Der Kampf im eigenen Heim ist intensiver. Das Haus zu verlassen, spät heimzukehren, von Gegnern der Revolution beschimpft und beleidigt zu werden – all das war für unsere Familien nicht akzeptabel und hatte emo­tio­na­len Druck, sogar Strafen zur Folge. Aber wir hatten darauf nur eine Erwiderung. Wir sagten: Die, die in der Revolution ihr Leben gelassen haben, sind für uns und für euch gestorben. Wir müssen dasselbe tun.

Heute haben alle Parteien in Jemen eines gemein: Sie richten immer mehr Zerstörung an. Seit 2015 hat die von Saudi-Arabien geführte Koalition Kliniken, Schulen und Museen zerstört. Sie hat Menschen in ihren Häusern, auf Märkten und in Hochzeitssälen beschossen. Die gepanzerten Fahrzeuge der Huthis aber hat sie nicht zerstört.

Die Huthis sind nicht besser. Angestellten haben sie seit 2016 keine Gehälter gezahlt. Die Steuern haben sie aber angehoben unter dem Vorwand, die Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Die Gebiete, die ihre Miliz durchquert, verminen sie. Massenweise Kinder haben sie rekrutiert. Und so verhält es sich auch mit dem von den Emiraten unterstützten Südlichen Übergangsrat, der im Süden das Sagen hat. Von Gefängnissen ist die Rede, in denen gefoltert wird, wer sich der Präsenz der Vereinigten Emirate widersetzt. Weit verbreitet sind Entführungen von Mädchen und Vergewaltigungen von Kindern.

Jemen 2013: Aktivist*innen haben Zelte auf ihren „Platz des Wandels“ in Sanaa aufgestellt Foto: Abbie Trayler-Smith/Panos/Visum

Während sie immer weiter kämpfen, haben 2020 alle nur denkbaren Katastrophen die Menschen heimgesucht. Die Epidemie traf auf ein Volk, das bereits am Rande einer Hungersnot stand. Hinzu kamen Überschwemmungen und zu guter Letzt noch Heuschrecken, die den Himmel schwärzten und die Ernte der Menschen zerstörten.

Im Krieg gibt es Profiteure. Er bietet Gelegenheit, Rechnungen zu begleichen oder sich selbst zu bereichern. Den Preis zahlen die Machtlosen. Am Ende aber sind es die vermeintlich Machtlosen, die die Lage ändern können. Der Arabische Frühling hat gezeigt, dass, egal wie stark ein Regime und wie erschöpft ein Volk ist, sie eines Tages die Rollen tauschen werden. Ich denke, wir Jemeniten haben keine andere Wahl: Wir müssen fortsetzen, was wir begonnen haben.

Aus dem Arabischen Jannis Hagmann