Die Revolution der Eurokraten

Die EU-Kommission hat in dieser Woche Vorschläge für den Green Deal präsentiert. Der Kampf um das Ende des fossilen Regimes nicht nur bei Energie, Verkehr, Wirtschaft, sondern in allen Teilen der Gesellschaft wird die nächsten Jahre prägen

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Von Bernhard Pötter

Nein, nein, versichert die Mitarbeiterin von EU-Kommissar Frans Timmermans, „der Termin war wirklich reiner Zufall“. Das „Fit for 55“-Paket für den Klimaschutz stellte die EU-Kommission in Brüssel am 14. Juli vor, dem französischen Nationalfeiertag. Dass die Abschlusssitzung der Kommission ausgerechnet an diesem Tag stattfand, ist ein historisch durchaus passender Zufall: Was die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, umringt von sechs KommissarInnen, in dieser Woche präsentierte, ist tatsächlich so etwas wie eine Revolution. Es ist der Fahrplan für eine grundlegende Neuordnung von Wirtschaft und Politik in Europa. Es ist ein Wagnis, das bereits jetzt viele Gegner hat und eine Vision für eine bessere Zukunft. Es geht um jede Menge ungelöster Probleme und ein deutliches Signal in die Hauptstädte der EU, an den Rest der Welt und vor allem auch an die Börsen und Vorstandsetagen.

Wie es sich für eine Revolution von Eurokraten gehört, beruft sie sich auf Recht und Gesetz: auf das Klimagesetz, vom Europäischen Parlament Ende Juni beschlossen. Und auf die Entscheidung des Ministerrats vom Dezember 2020. Beide haben die neuen Klimaziele der Union zementiert: 55 Prozent weniger Treibhausgase im Jahr 2030 gegenüber 1990 und Klimaneutralität bis 2050. Beide Zahlen waren in der EU hart umkämpft, wurden von der deutschen Kommissionschefin vor zwei Jahren bei ihrer Bewerbungsrede angestoßen und von der deutschen Kanzlerin in ihrer Ratspräsidentschaft 2020 endgültig durchgesetzt. „Viele der Premiers und Präsidenten haben nicht verstanden, welche Konsequenzen das hat, was sie unterschrieben haben“, sagt ein ehemaliger ranghoher EU-Beamter.

Seit Mittwoch können sie es nun schwarz auf weiß in den Vorschlägen der Kommission lesen (siehe unten und rechte Seite). 12 Gesetze, Verordnungen und Richtlinien der EU sollen geändert werden, um einen der größten Binnenmärkte der Welt mit 445 Millionen EinwohnerInnen fit zu machen für die Herausforderungen der Klimakrise. Das „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ der französischen Revolution heißt jetzt Klimaschutz, Wachstum und Zusammenhalt der EU. „Europa ist der erste Kontinent, der einen umfassenden Rahmen präsentiert, um unsere Ziele zu erreichen“, sagt von der Leyen.

Ausgerechnet die EU, dieses seltsame Gebilde aus Staatenbund, ökonomischem Zweckverband und teilweiser Währungsunion, geteilt und zusammengehalten durch gemeinsame Geschichte und 24 offizielle Sprachen, macht sich nun also auf den Weg zum „ersten klimaneutralen Kontinent“. US-Präsident Joe Biden hat große Pläne für eine klimaneutrale Wirtschaft verkündet, kämpft aber mit seinem Kongress um die Finanzierung. Und China verkündet ein CO2-freies Land für 2060. Aber wie genau das aussehen soll, weiß niemand.

Diese europäische Revolution soll umfassend sein, und alles hängt mit allem zusammen. Es seien „viele Baustellen und Konflikte aufgemacht“ worden, meint Brigitte Knopf, Generalsekretärin des Berliner Thinktanks Mercator Institute on Global Commons and Climate Change. Es drohten Auseinandersetzungen mit Osteuropa über den zweiten Emissionshandel, in der Außenpolitik durch den Grenzausgleich CBAM, mit der Industrie über freie Zuteilung von CO2-Lizenzen, mit den Bauern über die Landwirtschaftsregeln und mit der Autoindustrie über die CO2-Standards. Ihre bange Frage: „Wird die Kommission alle diese Konflikte lösen können?“

Das weiß die Kommission selbst auch noch nicht. Es werde „natürlich verdammt hart, das zu schaffen“, sagt Frans Timmermans. Vizechef der EU-Kommission und zuständig für den Green Deal. Er macht aber auch deutlich, dass die Kommission vom Ziel nicht abrücken wolle. Timmermans weiß, dass der Kampf um die kohlenstofffreie Zukunft Europas jetzt erst anfängt, nachdem er seine Beamten bis zur Erschöpfung durch die Dossiers gehetzt hat. Auch in der Kommission gab es Streit, manche KollegInnen fühlten sich übergangen, Haushaltskommissar Johannes Hahn widersprach offen den Plänen. Timmermans meinte, es sei „klar, dass es in diesem Paket Dinge gibt, die manche nicht mögen.“ Sie könnten gern eigene Vorschläge machen – aber das Ziel müsse bleiben.

Wie sehr die „Fit for 55“-Ideen aus Brüssel in den europäischen Hauptstädten und im Parlament angenommen werden, wird sich zeigen. Für alle Änderungen braucht die Kommission die Zustimmung von Europäischem Rat und vom Parlament. Im Idealfall dauert das neun Monate. EU-Insider sind skeptisch. „Das wird sich bis Mitte der 20er Jahre hinziehen“, meint ein altgedienter Experte. Doch die Zeit drängt: Wenn das Paket erst 2025 in Kraft tritt, bleiben nur noch 5 Jahre, um die extrem ehrgeizigen Ziele zu erreichen.

„Das ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ der französischen Revolution heißt jetzt Klimaschutz, Wachstum und Zusammenhalt der EU.“

Wie viel der Green Deal wie schnell der Umwelt nützt, ist allerdings auch noch unklar. Die Reaktionen der UmweltschützerInnen auf das Paket reichen von „enorm wichtig“ und „wegweisend“ bis „zu vorsichtig“. Die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg twitterte, „wenn die EU nicht ihr ‚Fit for 55‘-Paket zerreißt, hat die Welt keine Chance, unter 1,5 Grad Erwärmung zu bleiben.“ Thunberg hatte 2018 mit ihrem Schulstreik, der daraus erwachsenden Welle von „Fridays for Future“-Protesten in ganz Europa und danach mit ihren öffentlichen Auftritten vor der UNO und der EU maßgeblich dazu beigetragen, dass die EU-Wahlen 2019 eine grüne Welle ins EU-Parlament gespült hatten. Und auch von der Leyens „Mondlandungsprojekt“ für einen Green Deal hätte es ohne die Greta-Mania so wohl nicht gegeben.

Sozialdemokrat Timmermans will dafür sorgen, dass bei der grünen Revolution nicht wie sonst immer die Armen unter die Räder geraten. Sein Plan sieht vor, dass ein Viertel der Erlöse aus dem neuen Emissionshandel zu Transport und Gebäuden, immerhin etwa 10 Milliarden jährlich, in einen Klimasozialfonds fließen. Daraus sollen Hilfen finanziert werden, um bei steigenden Energiepreisen niemanden zu überfordern. Ob die EU-Länder diesen Fonds noch einmal wie geplant um die gleiche Summe aufstocken, ist unklar. Die EU hat auch schon mit dem „Just Transition“-Fonds Milliarden ausgelobt, um Kohleregionen den Ausstieg aus dem dreckigen Brennstoff zu erleichtern. Die offizielle Politik aus Brüssel dazu lautet: „Wir dürfen niemanden zurücklassen.“

Das ist sozial gedacht, aber auch realpolitisch. Frankreichs Präsident Emmanuel Ma­cron fürchtet um seine Wiederwahl im nächsten Jahr, vor allem wenn es zu einem Wiedererstarken der „Gelbwesten“-Proteste von 2018 kommen sollte. Deshalb hat Ma­cron hinter den Kulissen gegen den „kleinen Emissionshandel“ agitiert, heißt es in Brüssel. Es ist eine deutsche Idee, die dem Franzosen schaden könne. Frankreich aber wird eine entscheidende Rolle spielen im entscheidenden Frühjahr 2022. Denn dann hat das Land den EU-Ratsvorsitz und es finden Präsidentschaftswahlen statt. Wenn Macron den Elysee-Palast an Marine Le Pen verlieren sollte, würde Frankreich seinen Trump-Moment erleben und auch beim Klimaschutz viele europäische Ideen auf den Misthaufen werfen. Dann könnte es mit dem „Fit for 55“-Paket und dem Green Deal schnell vorbei sein. Die europäische Revolution wäre gescheitert.