„Wir haben noch sehr viel zu tun“

Klimaschutz-Senatorin Regine Günther (Grüne) über ihre Rolle angesichts der „Fridays for Future“-Proteste, über Schnellladesäulen für Autos und die Missverständnisse beim Begriff der Radikalität

Regine Günther (Jahrgang 1962) , seit 2016 Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz Foto: Florian Boillot

Interview Bert Schulz
und Claudius Prößer

taz: Frau Günther, diesen Freitag ist wieder Globaler Klima­streik angesagt. Machen Sie mit?

Regine Günther: Nein. Ich kämpfe seit mehr als 20 Jahren für ambitionierten Klimaschutz. Am Freitag vor der Wahl bin ich aber nicht auf der Straße.

Warum nicht?

Der Protest richtet sich an politisch Verantwortliche wie mich als Berliner Klimaschutzsenatorin, aber auch etwa an Svenja Schulze und Peter Altmaier im Bundeskabinett – also an jene, die auch für die Umsetzung von Klimapolitik verantwortlich sind. Ich habe mich früher viele Jahre als Klimaaktivistin an solchen Protesten beteiligt. Ich sympathisiere mit dem Klimastreik und sehe auch die Notwendigkeit dafür, aber meine Rolle ist momentan eine andere.

Wer hat den Klimaschutz in den letzten fünf Jahren mehr vorangebracht: Fridays for Future oder die Politik?

Die Politik hat von Fridays for Future Druck bekommen, aber auch Rückenwind für mehr Klimaschutz. Forderungen sind der Startpunkt. Sie müssen dann aber auch operationalisiert werden.

Was genau meinen Sie mit „operationalisiert“?

Die Forderungen müssen über konkrete Maßnahmen in Emissionsminderungen umgesetzt werden. Und zwar vor allem in den drei großen Bereichen Energie, Gebäude und Mobilität. Mit präzisen Instrumenten, sonst nützen die besten Forderungen nichts. Es braucht beide, Politik und Protestierende, um den Klimaschutz voranzubringen.

Geht Ihnen die zunehmende Radikalität vieler KlimaaktivistInnen nicht langsam auf die Nerven? Jede Maßnahme, die die Politik aufgreift, und jedes neue Reduktionsziel wird ja gleich wieder als zu schwach und zu langsam kritisiert.

In Sachen Klimaschutz wurde 30 Jahre lang versäumt, jene Maßnahmen zu ergreifen, die wirklich notwendig sind. Und die politisch Verantwortlichen wussten das. Vielleicht nicht in der heutigen Detailschärfe, aber insgesamt genug. Jetzt sind wir in dem Dilemma, die erforderlichen Maßnahmen in ein immer kürzeres Zeitkorsett pressen zu müssen. Das kommt an seine Grenzen, wenn wir über Infrastruktur sprechen: Schienenausbau, Anlagenbau, Dämmung von Millionen Gebäuden – das alles braucht seine Zeit. Radikale Ziele sind eben noch keine Umsetzung. Dass nur derjenige der radikalste Klimaschützer ist, der die radikalsten Forderungen stellt, ist ein Missverständnis. Erfolgreicher Klimaschutz spiegelt sich vor allem auf der Maßnahmenebene.

Konnten Sie denn radikale Maßnahmen umsetzen?

Wir haben in Berlin in den vergangenen fünf Jahren im Klimaschutz sehr viel auf den Weg gebracht. Etliches davon ist in Deutschland einmalig. Wir haben mit dem Berliner Energiewendegesetz nicht nur das anspruchsvolle Ziel aufgestellt, bis spätestens 2045 klimaneutral zu sein. In Berlin wird nun jedes Gesetzesvorhaben auf seine Klimarelevanz geprüft. Wir werden bis 2030 aus der Kohlenutzung aussteigen, wir werden als erstes Bundesland die Fernwärme ökologisch regulieren. Parallel dazu haben wir initiiert, dass sehr schnell Solaranlagen auf die Dächer öffentlicher Gebäude kommen. Wir haben mit dem Mobilitätsgesetz, das bundesweit ohne Beispiel ist, die Verkehrswende mit dem Vorrang von ÖPNV, Rad- und Fußverkehr eingeleitet – also den Abschied von der autogerechten Stadt. Bei der energetischen Sanierung der Gebäude muss in der nächsten Legislatur allerdings entscheidend mehr passieren. Das hängt zu großen Teilen am Bund, weil es sehr viel um Förderung geht.

Bis 2045 als Stadt klimaneutral zu sein, ist aber wirklich nicht radikal, oder?

Wir haben vor wenigen Tagen eine Studie veröffentlicht, die in unserem Auftrag untersucht hat, ob und wie es mit der Umsetzung in Berlin schneller gehen könnte. Aber eben nicht auf der Grundlage von Wunschdenken, sondern von maximal ambitionierten, noch möglichen Maßnahmen. Wir sind dabei nicht von einer gegriffenen Sanierungsrate für die energetische Verbesserung der Gebäude von 4 Prozent pro Jahr ausgegangen, wie es eine andere prominente Studie getan hat. Denn jeder weiß, dass wir das nicht hinbekommen werden – allein mit Blick auf die Kapazitäten des Handwerks. Unsere Studie hat ergeben: Vor den 2040er Jahren ist Klimaneutralität in Berlin nicht zu erreichen. Selbst bei einer riesigen Kraftanstrengung.

Das klingt hart.

Selbst die 70 Prozent weniger CO2-Emissionen bis 2030, die wir uns vorgenommen haben, sind noch nicht in trockenen Tüchern. Wir haben noch sehr viel zu tun, und deswegen müssen unsere Ziele und Maßnahmen hoch ambitioniert, aber eben auch plausibel und nachvollziehbar sein.

Radikal ist also gar nicht so gut? Das Volksbegehren Klimaneutral Berlin fordert ein klima-CO2-ausstiegneutrales Berlin bis 2030.

Je früher Klimaneutralität erreicht wird, umso besser. Ich habe aber bislang kein einziges belastbares Szenario gesehen, wie das bis 2030 gehen soll – also mit welchen wirklich umsetzbaren Maßnahmen. Natürlich müssen unsere Ziele ambitioniert sein, aber innerhalb der Planungshorizonte auch machbar. Wir können und müssen Verfahren beschleunigen, aber auch das hat Grenzen, gerade in einer demokratischen Gesellschaft mit viel Beteiligung. Sonst könnten wir genauso gut sagen: Klimaneutralität bis 2030 ist nicht schnell genug – warum nicht gleich bis 2024? Es gibt einfach objektive Restriktionen, denen wir uns stellen müssen. Und 2030 kommt bereits in acht Jahren.

Umgekehrt gefragt: Wenn selbst der Umbau einer Straße wie Unter den Linden voraussichtlich zwölf Jahre braucht, wie wir gerade erst erfahren haben, wie will man dann bis 2040 die Wärmedämmung aller Gebäude in der Stadt erneuern?

Indem man heute damit anfängt, entsprechende Förderungen anbietet und den Infrastrukturumbau schnellstmöglich vorantreibt. Es gibt präzise Planungen, was wir für den Fernwärme- und den Gebäudesektor in den nächsten zwei Dekaden brauchen, und auch bei der Mobilität habe ich klare Vorstellungen, wie wir hier schon bis 2035 zur Klimaneutralität kommen.

Können Sie das einmal skizzieren?

Entscheidend ist die Elektrifizierung der Kraftfahrzeuge. Um unsere Städte lebenswert zu halten, brauchen wir weniger Autos – und die müssen batterieelektrisch fahren. Als Land Berlin haben wir hier einiges auf den Weg gebracht: Bis 2030 fahren sämtliche BVG-Busse elektrisch, auch für alle anderen Landesflotten – ob Polizei, Feuerwehr, Grünflächenämter – gilt das Ziel einer Dekarbonisierung bis 2030. Im privaten Bereich steigen die Zulassungszahlen für Elektroautos inzwischen exponentiell. Darauf müssen wir uns vorbereiten, auch wenn Berlin derzeit gut aufgestellt ist bei den Ladesäulen.

Mal ganz konkret: Wie viele haben wir jetzt?

Aktuell haben wir rund 1.800 Ladepunkte – das ist im Bundesvergleich sehr gut, reicht aber nicht für die kommenden Jahre. Wir müssen die Ladeinfrastruktur in Berlin schnell ausbauen. Dabei geht es weniger um die Anzahl der Säulen, sondern darum, welche Leistung sie haben. Ich bin für einen ausreichenden Ausbau der Schnellladestationen, an denen ein E-Auto innerhalb einer halben Stunde vollgeladen ist. Die brauchen wir an Tankstellen, aber auch in Parkhäusern oder vor Supermärkten. Dazu eine öffentliche Fläche pro Bezirk mit zum Beispiel jeweils 20 Säulen. In diese Richtung müssen wir in den nächsten fünf Jahren gehen, um eine Grundausstattung zu gewährleisten – damit keiner mehr Angst hat, sich ein Elektroauto zu kaufen und es dann nicht laden zu können. Die Vorstellung, dass wir die Stadt, den öffentlichen Raum, mit 50.000 leistungsschwachen Ladesäulen zubauen, halte ich dagegen für abenteuerlich. Wir wollen ohnehin nicht den Kfz-Bestand 1:1 austauschen – vom Verbrenner zum Elektroantrieb –, schon aus Gründen der Verkehrssicherheit und der Flächengerechtigkeit. Städte brauchen weniger Autos, wenn sie ihre Lebensqualität erhalten und steigern wollen.

Derzeit besitzt aber noch grob jeder dritte Berliner ein Auto. Um wie viel sollte dieser Anteil sinken?

Da lässt sich seriös keine genaue Zielzahl nennen, aber der Plan ist, dass das ÖPNV-Angebot und die Radinfrastruktur bis spätestens 2030 so gut werden, dass die Leute freiwillig umsteigen. Weil die Busse und Bahnen komfortabel sind und rechtzeitig und häufiger kommen als heute. Und weil die Radinfrastruktur für alle diejenigen attraktiv wird, die sich jetzt noch nicht trauen.

Sie wollen also Anreize für den Umstieg auf Elektroautos und gleichzeitig, dass weniger Leute Auto fahren. Das ist doch ein Widerspruch.

Nein. Wenn jemand ein Auto braucht und möchte, dann sollte es ein Elektroauto sein. Grundsätzlich wird es aber weniger Platz für Autos in der Stadt geben.

Weshalb brauchte der Radverkehrsplan so lange? Warum soll der Berliner Senat jetzt U-Bahnen bauen? Und wird „Berlin autofrei“ zum Volksentscheid Fahrrad 2.0? Regine Günthers Bilanz in Sachen Mobilität lesen Sie im vollständigen Interview auf:

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