In 113 Tagen nach Kiew

Scholz reist mit Draghi, Macron und Johannis in die Ukraine. Dabei äußert der Bundeskanzler den Wunsch, dass die Ukraine EU-Beitrittskandidat wird

Mit eigenen Augen: Macron, Scholz und Draghi in Irpin, das im April von Russland aufgegeben wurde Foto: Kay Nietfeld/dpa

Aus Berlin und Kiew Anna Lehmann
und Anastasia Magasowa

Deutschland handle stets im Geleitzug mit den Verbündeten, hatte Bundeskanzler Olaf Scholz seinen Kri­tike­r:in­nen stets entgegnet, wenn es um seine Ukraine-Politik und um Waffenlieferungen (zu wenige) ging. Als sich der Kanzler am Mittwochabend in Richtung Kiew aufmachte, saß er tatsächlich im Zug und wurde begleitet vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron und vom italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi. In Kiew stieß am Donnerstagvormittag noch der rumänische Staatschef Klaus Johannis dazu.

Obwohl sie zu viert anreisten, galt das Hauptaugenmerk der Ukrai­ne­r:in­nen dem Deutschen. Scholz war lange vorgeworfen worden, er sitze im Bummelzug, seit Kriegsbeginn verstrichen tatsächlich 113 Tage bis es wieder zu einem persönlichen Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski kam.

Empfangen wurden die Po­li­ti­ke­r in der ukrainischen Hauptstadt Kiew zunächst mit Sirenengeheul, Luftalarm, der 30 Minuten dauerte. In ukrainischen sozialen Netzwerken machte bissiger Spott die Runde: „Damit sie die Atmosphäre verstehen, in der wir leben.“ – „Vielleicht helfen sie uns dann schneller“ oder „So schickt ihnen Wladimir Putin Grüße aus dem Kreml. Wahrscheinlich ist er beleidigt, dass Macron ihn heute nicht angerufen hat.“

„Die Ukraine gehört zur europäischen Familie“

Olaf Scholz, Bundeskanzler

Die Erwartungen an den Westen sind riesig: Waffenlieferungen, schneller Beitritt zu EU und Nato. Doch die Skepsis ist auch groß. Macron wirft man seine Telefonate mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vor. Die ukrainische Seite fürchtet, der Franzose könne, getrieben von dem Wunsch „Putins Gesicht zu wahren“, territoriale Zugeständnisse von Kiew verlangen. Scholz werfen viele Ukrai­ne­r:in­nen eine vage Haltung zur Lieferung schwerer Waffen und Wirtschaftsbeziehungen zu Russland vor. Draghi kreiden sie an, den Krieg beenden zu wollen, was in der Ukraine als Kapitulation gewertet wird.

Der Besuch des EU-Quartetts in Kiew sollte auch dazu dienen, Vertrauen zurück zu gewinnen und den Ukrai­ne­r:in­nen erneut zu vermitteln, dass man an ihrer Seite sei. Gegen Mittag traf man im Präsidentenpalast Selenski und saß mit ihm am runden Tisch zusammen – symbolträchtige Bilder eine Woche vor dem EU-Gipfel. Am 23. und 24. Juni treffen sich die Re­gie­rungs­che­f:in­nen der 27 EU-Mitglieder und entscheiden, ob die Ukraine den Kandidatenstatus erhält. Die Kommission will am Freitag eine Empfehlung abgeben.

Die vier Staats- und Regierungschefs gingen am Donnerstag voran und machten sich dafür stark, der Ukraine und ihrer kleinen Nachbarrepublik Moldau den Status von EU-Beitrittskandidaten zuzusprechen. „Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine. Das gilt auch für die Republik Moldau“, sagte der deutsche Bundeskanzler in einer Pressekonferenz zum Abschluss des Besuchs. „Die Ukraine gehört zur europäischen Familie.“ Scholz hatte bislang offengelassen, ob er den Kandidatenstatus der Ukraine unterstützt, auch Macron bremste solche Erwartungen bisher. Nun versicherte er Selenski: „Sie können auf uns zählen.“ Mächtige Fürsprecher also, die notwendig sein werden, um auch andere Skeptiker in der EU zu überzeugen.

Am runden Tisch: Draghi, Scholz, Selenski, Macron und Johannis (im Uhrzeigersinn) in Kiew   Foto: Kay Nietfeld/dpa

Selenski bedankte sich für den „historischen“ Besuch und betonte: „Wir wissen die Solidarität mit unserem Land sehr zu schätzen.“ Gleichwohl bekräftigte er, dass man mit weiteren Waffenlieferungen rechne, insbesondere mit Artillerie und schweren Waffen. Je mehr Waffen geliefert würden, desto schneller könne das ukrainische Volk sich und das eigene Territorium befreien. Außerdem forderte der Ukrainer von der EU ein siebtes Sanktionspaket gegen Russland.

Am Vormittag bekamen Scholz, Macron und Draghi im Kiewer Vorort Irpin eine Führung durch die von Ruinen gekennzeichneten Teile des Viertels. „Das sagt sehr viel aus über die Brutalität des russischen Angriffskriegs, der einfach auf Zerstörung und Eroberung aus ist“, sagte Scholz danach in einem Statement. Die Zerstörungen in Irpin seien ein „ganz wichtiges Mahnmal“ dafür, dass etwas zu tun sei. Scholz bekräftigte, dass die Hilfe für die Ukraine weitergehen werde. Man wolle nicht nur Solidarität demonstrieren, „sondern auch versichern, dass die Hilfe, die wir organisieren, finanziell, humanitär, aber auch wenn es um Waffen geht, fortgesetzt werden wird“. Neue militärische Mitbringsel, wie sie etwa der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk zuvor gefordert hatte, hatte Scholz allerdings nicht dabei.

Deutschland hat bislang Waffen- und Munitionslieferungen im Wert von 350 Millionen Euro genehmigt, überweist der Ukraine zudem 1 Milliarde Euro für Waffenkäufe auf dem freien Markt und hat seit Beginn des Krieges 440 Millionen Euro für humanitäre Hilfe zur Verfügung gestellt. Nach Meinung vieler Ukrai­ne­r:in­nen reicht das aber nicht aus.

Zupacken: Scholz gibt Selenski die Hand Foto: Kay Nietfeld/dpa

„Sagen Sie bitte Scholz, dass er uns bald Waffen liefern soll. Es reicht langsam mit diesen Verzögerungen“, ereifert sich der 47-jährige Kiewer Bohdan, als die taz ihn in Kiew fragt, was er von dem Kanzlerbesuch erwarte. Der Mann meint, dass die deutsche Regierung in Bezug auf Russland schon längst entschlossener hätte auftreten sollen. Das denkt auch Swetlana, die erst vor Kurzem aus ihrem Evakuierungsort nach Kiew zurückgekommen ist. Die Frau meint, sie habe immer gedacht, Deutschland habe eine führende Rolle in Europa, aber jetzt in der Krise habe sich gezeigt, dass dem gar nicht so sei. „Drei von Deutschland zugesagte Mehrfach-Raketenwerfer – das ist lächerlich und wirkt fast wie Hohn. Die Deutschen müssen endlich verstehen, dass Putin nur die Sprache der Stärke versteht. Man kann mit ihm nicht verhandeln. Ich hoffe, dass Macron, Scholz und Draghi nicht nur nach Kiew gekommen sind, um Selenski zu einem neuen Minsker Abkommen zu überreden“, erklärt Swetlana.

Das Minsker Abkommen zwischen der Ukraine und Russland, maßgeblich mitvermittelt von Deutschland, sollte einst den Krieg in der Ostukraine beenden. Mit dem 24. Februar ist es Geschichte. Gegenwärtig sitzt Deutschland aber weder als Vermittler mit am Tisch, noch verhandelt man gar im Namen der Ukrainer. Scholz und Macron bekräftigten am Donnerstag: Man werde nie und nimmer im Namen der Ukraine mit Russland verhandeln oder Konzessionen machen. (mit dpa)