Eine alte Steinbrücke mit einem Stahlgestell über dem Fluss Ahr

Foto: David Klammer

Ein Jahr nach dem Ahrtal-Hochwasser:Leben nach der Flut

Am 14. Juli 2021 wurde das Ahrtal überflutet. Besonders hart traf es den Ort Schuld. Nun kämpfen sich die Menschen zurück in den Alltag.

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9.7.2022, 09:46  Uhr

Christina Müller-Lettau sitzt in ihrem Auto und fährt die Hauptstraße des Orts entlang, links von ihr der Fluss Ahr, rechts Ruinen. Sie nimmt eine Hand vom Lenkrad und zeigt auf einen viereckigen Krater: „Da war mal unser Lebensmittelladen.“ Auf den nächsten: „Da der Bäcker.“ – „Da eine Pizzeria.“ Und auf den nächsten: „Landgasthaus Köbes“. Alle weg.

Müller-Lettau, 60 Jahre alt, wohnt seit 20 Jahren im Ahrtal. Aus Bonn zog es sie 2001 in die kleine Ortsgemeinde Schuld, weil sie sich in der Stadt nach den Terroranschlägen vom 11. September nicht mehr wohl fühlte. Doch die Katastrophe holte sie ein, wenn auch anders: In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 drückte sich eine acht Meter hohe Flutwelle durch Schuld. Riss Bäume, Autos, ganze Häuser mit sich. Als sich das Wasser zurückzog, glich Schuld – ein kleines Dorf mit vielen Fachwerkhäusern, eingenistet in ein Tal des unteren Ahrgebirges – einer Trümmerlandschaft.

Vier Häuser wurden in der Flutnacht komplett weggespült, 141 Häuser waren so stark beschädigt, dass man in ihnen nicht mehr oder nur noch im ersten Stockwerk wohnen konnte. Mehr als je­de:r zehnte der 660 Ein­woh­ne­r:in­nen musste den Ort zeitweise verlassen. Zu Tode kam hier wie durch ein Wunder niemand.

Müller-Lettau und ihr Mann hatten noch Glück. Ihr Haus liegt nicht weit entfernt von der Ahr, aber etwas erhöht. Ihnen wurden nur die Füße nass. Dennoch standen sie wie alle in Schuld unter Schock. Ihre Heimat wurde zerstört.

Wo Bäcker, Pizzeria und Gasthof waren, klaffen Krater

Hunderte Freiwillige aus ganz Deutschland machten sich nach der verheerenden Flut auf in die vom Hochwasser betroffenen Gebiete, auch nach Schuld. Sie befreiten Straßen von Geröll, schleppten Schlamm aus den Häusern und schafften Tonnen von Sperrmüll weg, zu denen Möbel und Haushaltsgeräte geworden waren.

Noch nie wurden hierzulande für eine Naturkatastrophe in Deutschland so viele Spendengelder gesammelt, über eine halbe Milliarde Euro. Dazu unzählige Sachspenden. Der Staat reagierte: Jeder betroffene Haushalt bekam mindestens 1.500 Euro Soforthilfe. Für den Wiederaufbau stellte der Bund wenige Wochen später bis zu 30 Milliarden Euro bereit. So viel wie das Bruttoinlandsprodukt Estlands.

Doch schon kurz nach der Flut zeigte sich: Geld und Hilfsbereitschaft zu bekommen ist nicht die größte Herausforderung. Mitte Oktober 2021 rief Bürgermeister Helmut Lussi dazu auf, dass keine freiwilligen Hel­fe­r:in­nen mehr nach Schuld kommen sollten. Die gröbsten Aufräumarbeiten seien abgeschlossen. Nun gehe es nicht mehr darum, wegzuschaffen, sondern darum, aufzubauen. Für Privatpersonen werden in der Regel 80 Prozent der Kosten für den Wiederaufbau übernommen, in Härtefällen auch 100 Prozent.

Von den vollständigen Anträgen für diese Aufbauhilfe sind laut Land Rheinland-Pfalz bisher über 90 Prozent genehmigt. Auch die sogenannten Maßnahmenpläne der Kommunen und Landkreise mit über 4.500 Einzelmaßnahmen liegen allesamt vor. Das Land fördert die Wiederaufbaukosten in der Regel bis zu 100 Prozent.

Auch wenn es in Einzelfällen hakt: Das Gerüst des Wiederaufbaus stand schnell, und es steht fest. Doch es braucht auch Menschen, die die Dinge anschieben, nachhaken und vorantreiben. Menschen, die den Widrigkeiten des Aufbaus trotzen. Und vor allem Menschen, die vor Ort sind und weitermachen. Um drei solcher Menschen geht es in diesem Text.

Die Beamtin

Christina Müller-Lettau steht jetzt vor der Domhofbrücke, einer alten Steinbrücke aus dem Jahr 1910. Die Brücke steht noch – immerhin. Aber sie hat nichts mehr von ihrer Anmut, der Ortsfremde auf Fotos noch nachspüren können. Die enge Fahrbahn und die kleinen Brückenmauern wurden von dem Unrat und den Baumstämmen, die die Flut mit sich riss, zerstört.

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Über die rund 40 Meter lange Brücke spannt sich nun ein Stahlgerüst, quasi eine zweite Brücke, befestigt an den Uferseiten der Ahr, damit man sie überqueren kann, ohne die Domhofbrücke zu belasten.

Es ist diese Brücke, die Müller-Lettau als Erstes einfällt, wenn sie gefragt wird, was das drängendste Problem in Schuld ist. Eigentlich arbeitet Müller-Lettau beim Bundesamt für Justiz in Bonn. Doch seit rund einem Jahr ist die Ortsgemeinde Schuld ihr Arbeitsgebiet. Der Bund hat sie freigestellt, um den ehrenamtlichen Bürgermeister beim Wiederaufbau zu unterstützen.

Eine Frau auf einem Stahlgerüst über einer alten Brücke

Christina Müller-Lettau wurde vom Bundesamt für Justiz freigestellt, um dem Bürgermeister zu helfen Foto: David Klammer

Trotz der vielen Flutschäden gleicht die Gegend um die Domhofbrücke auch heute noch einem malerischen Idyll. Die Sonne glitzert im Fluss, auf einer Uferseite erhebt sich das Ahrgebirge, auf der anderen hat ein braungebrannter Mann ein Holzbrett aufgebockt, um es abzuschleifen.

Die Brücke verbindet die Ortsteile Domhof und Überahr, doch der Autoverkehr ist seit dem 14. Juli unterbrochen, das Stahlgerüst kann man nur zu Fuß überqueren. Die fehlende Anbindung ist aber gar nicht die größte Sorge Müller-Lettaus – der Umweg über eine Umgehungsstraße sei nicht schön und für die An­woh­ne­r:in­nen sicher nervig, aber verkraftbar.

Dass Müller-Lettau auf einen schnellen Neubau der Brücke drängt, liegt an den Leitungen: Wasser und Strom. Die Kabel und Rohre führten vor der Flut unter der Ahr hindurch, das ist jetzt nicht mehr erlaubt, sie hielten dem Hochwasser nicht stand. Nach der Flut musste Schuld teilweise vom Technischen Hilfswerk mobil mit Trinkwasser versorgt werden. Tagelang gab es keinen Strom.

Jetzt sollen die Leitungen in die Brücke einbetoniert werden – zur Sicherheit. Aktuell sind sie jedoch gefährdeter als zuvor, denn sie führen als Provisorium entlang des Stahlgerüsts über die Brücke, im Freien. „Wir können froh sein, dass wir hier einen milden Winter hatten“, sagt Müller-Lettau. „Bei langfristigen Minusgraden ist unklar, wie lang die Leitungen halten.“ Auch ein neues Hochwasser könnte das Provisorium gefährden.

Überall wird man hier mit der Flut konfrontiert

Müller-Lettau redet schnell. Die Haare trägt sie strubbelig, an den Spitzen gefärbt. Es war ihre Idee, Bürgermeister Helmut Lussi bei seiner Arbeit zu unterstützen. „Das hat ein paar Tage gedauert, ihn davon zu überzeugen“, sagt sie. Schließlich sah Lussi ein, dass ein Wiederaufbau dieses Ausmaßes von einem ehrenamtlich arbeitenden Bürgermeister allein nicht gestemmt werden kann. Das Bundesamt für Justiz stellte Müller-Lettau zunächst ganz, mittlerweile noch für 30 Prozent für diese Aufgabe frei.

Die Domhofbrücke ist nicht nur sichtbarer Ausdruck der Zerstörungsgewalt der Flut, sondern auch Sinnbild für die teils quälend langen Verwaltungsprozesse, die mit dem Aufbau verbunden sind. Dreimal sei die Planung für den Aufbau der Brücke nun schon überarbeitet worden, erzählt Müller-Lettau. Immer habe der Wasserbehörde irgendwas gefehlt. „Aktuell warten wir schon wieder auf ein neues Durchflussgutachten.“

Erst wenn sichergestellt ist, dass sich das Wasser unter der neuen Brücke bei einer zukünftigen Flut nicht lebensbedrohlich staut, können die Arbeiten beginnen. „Gleichzeitig müssen wohl auch noch Gespräche mit dem Denkmalschutz geführt werden“, sagt Müller-Lettau.

Sie versteht all diese Prozesse und Vorgänge, sie ist ja selbst Beamtin. Nur müsse man in Ausnahmesituationen eben auch mal Ausnahmen machen können, sagt sie. „In dem Fall müsste man vielleicht mal sagen: So wird’s gemacht, und fertig.“

Müller-Lettau steigt in ihr Auto, die Domhofbrücke war der erste Stopp auf einer Rundfahrt durch Schuld, auf der sie erzählen will, wie es um den Aufbau steht, was gut läuft und was nicht so recht vom Fleck kommt. Sie drückt aufs Gaspedal, sie fährt sehr, sehr schnell, aber souverän.

Die Ahrstraße liegt nur wenige Meter vom Fluss entfernt und ist immer noch nicht wieder asphaltiert. Die Hangstraße am Ahrgebirge, der eigentliche Ortszubringer Schulds, ist seit einem Jahr gesperrt. Die Böschung wurde weggerissen. „Da ist noch gar nichts passiert“, sagt Müller-Lettau. In den Hängen am Ufer der Ahr hängt zum Teil tatsächlich noch Unrat aus der Flutnacht. „Es wäre auch schön, wenn die neue Landrätin mal vorbeikommt“, sagt Müller-Lettau. Die sei immerhin schon seit Februar im Amt.

Gibt es, trotz allem, schon wieder so etwas wie Alltag in Schuld? „Was heißt Alltag?“, fragt Müller-Lettau zurück. Kurze Pause, dann fügt sie hinzu: „Es ist schon beschwerlich.“ Für das Nötigste musste man den Ort früher nicht verlassen, gerade für ältere Menschen ein Segen.

Ein Viertel der Leute im Ahrtal lebt weniger als 200 Meter vom Fluss entfernt

Müller-Lettau fährt durch die kurvigen Straßen. Sie zeigt auf eine gelbe Fahrrad- und Fußgängerbrücke – während der Flut weggespült, liegt sie jetzt auf der anderen Uferseite. Sie zeigt auf die vielen planierten Flächen neben der Ahr, einst voller Bäume und Sträucher.

Drei Zonen wurden für den Aufbau eingerichtet: rot, gelb, grün. In der roten Zone dürfe nichts mehr neu entstehen, keine Häuser, auch keine Bäume. In der gelben Zone müssen Neubauten auf Stelen gebaut werden, noch stehende Häuser dürfen wieder aufgebaut werden. In der grünen Zone dürfen Neubauten nicht mehr unterkellert werden.

Vielleicht noch mehr als das Praktische, mehr als der fehlende Lebensmittelladen und der fehlende Bäcker, belastet das Psychische. „Sobald man das Haus verlässt, wird man mit den Folgen der Flut konfrontiert“, sagt Müller-Lettau. „Es gibt ein Leben vor und ein Leben nach der Flut.“ Besonders für ältere Menschen fühle es sich so an, als ob hier endgültig etwas verloren gegangen ist, sagt sie. Wenn es um den Aufbau von diesem oder jenem Gebäude geht, höre sie nun oft den gleichen Satz: „Na wer weiß, ob ich das noch erlebe.“

Zum Schluss der Rundfahrt steuert Müller-Lettau eine kleine Anhöhe hinauf. Sie biegt in einen Waldweg ein und steigt aus. Sie steht vor einer Freilichtbühne, die hat genauso viele Plätze wie Schuld Einwohner:innen. Die Bühne war nicht von der Flut betroffen. Sie wolle, wenn sie schon eine Tour gibt, nicht nur Zerstörung und Provisorisches zeigen, sondern auch Schönes, sagt Müller-Lettau. Gespielt wird diesen Sommer „Der Räuber Hotzenplotz“. Einige Tage nach dem Treffen schickt sie über Whatsapp eine Rezension des Stücks aus der Rhein-Zeitung. Auch sie und ihr Mann wollen es sich ansehen. Fast scheint es, als wolle sie betonen: Es geht zwar langsam, aber die Normalität kehrt zurück.

Der Neue

Auf einem Baugerüst um ein Einfamilienhaus in der Bahnhofstraße stehen vier Männer und verputzen gerade die letzte Fläche einer Außenwand, dann ist Feierabend. Die Männer steigen vom Gerüst. „Hallo“, sagt Christoph Hilting und reicht die Hand. Er heißt eigentlich anders, möchte aber seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Das Haus, bei dem er gerade geholfen hat die Fassade zu sanieren, gehört nicht ihm. Sein Haus steht gegenüber.

Hier in der Bahnhofstraße, die direkt neben der Ahr entlangführt, kam die Flut als Erstes an. Wie ein Mini-Vorort liegt die Straße, in der sich Einfamilienhaus an Einfamilienhaus reiht, etwas außerhalb des Ortskerns. Die Flut richtete hier besonders großen Schaden an, jedes Haus in der kurzen Straße war oder besser ist von der Flut betroffen, alle Be­woh­ne­r:in­nen mussten ausziehen.

Hilting bittet in sein Haus. Er ist in Schuld aufgewachsen, hat seine Kindheit hier verbracht, bis er als Teenager mit der Familie wegzog. Dem Ort ist er verbunden geblieben. Zurückziehen wollte er seit einigen Jahren. Nur habe es vor der Flut weder Häuser noch Bauflächen gegeben. Erst die Katastrophe, die so vielen Menschen ihr Haus und ihre Heimat nahm, eröffnet Hilting auf einmal die Möglichkeit, sich den Traum vom Eigenheim zu erfüllen. Das Haus, in das er bittet, hat er nach der Flut gekauft.

Von den zig Fragen, die man ihm dazu stellen möchte, drängt sich eine besonders auf: Warum? Warum zieht man in einen Ort, der erst vor wenigen Monaten von einer gewaltigen Naturkatastrophe getroffen wurde?

Um Hiltings „Fluthaus“, wie jeder hier beschädigte Häuser nennt, steht kein Gerüst mehr. Auf einem Balkon stehen sogar schon einige Blumenkästen. Innen sind die Wände frisch gestrichen, der Boden teils noch mit Planen bedeckt, aus den Wänden gucken lose Stromkabel, die auf Steckdosengehäuse warten. Das Ganze sieht schon recht fertig aus, verglichen mit den meisten anderen Fluthäusern in Schuld.

Hilting, blaue Arbeitskleidung, Baseballcap, setzt sich auf die Bank einer Bierzeltgarnitur, die noch als Möbelersatz dient. Vor ihm Werkzeug, eine Cola light, Zigaretten. Also: Warum hierherziehen, einen Steinwurf von der Ahr entfernt? Er zuckt mit den Schultern. „Ich glaube nicht, dass es noch mal passiert“, sagt er dann.

Von der Flut erfährt er in der Nacht auf den 15. Juli von seiner Tante, die noch in Schuld wohnt. Als der Ort wieder erreichbar war, ist er mit seiner Frau hingefahren. „Man hat einfach drauflos geholfen. Irgendwo gab es immer was zu tun“, sagt er.

Auch in der Bahnhofstraße hilft Hilting. Er lernt An­woh­ne­r:in­nen kennen, man kommt ins Gespräch. Irgendwann geht es nicht mehr nur ums Aufräumen, sondern ums Aufbauen. Wie? Wann? Wer? Und vor allem: Mit welcher Kraft? Er trifft auf ein älteres Ehepaar. Sie haben ein Haus in der Bahnhofstraße, aufbauen wollen sie es nicht, können sie nicht. Die Energie fehlt. Sie einigen sich schnell. Hilting und seine Frau kaufen das Haus, im August 2021 ist Schlüsselübergabe. „Einige fanden das schon mutig“, sagt er. Den Kopf geschüttelt haben aber weder Freunde noch Familie.

Und das Flutrisiko, was ist damit? „Mit dem müssen wir leben“, sagt Hilting. Es ist nicht so, dass den Menschen an der Ahr auf einmal bewusst wurde, dass sie an einem Fluss leben. Hochwasser gab es immer wieder, wenn auch nie so zerstörerisch. Hilting sagt: „Auch jetzt fällt es mir schwer, in der Ahr eine Gefahr zu sehen. Ich habe hier als Kind meine Beine ins Wasser gehalten, für mich war das immer ein Spieleparadies.“

Und man könnte die Frage auch umdrehen. Wenn das Risiko für Christoph Hilting und seine Frau zu groß sein soll, müssten dann nicht alle anderen Rückkehrer auch fernbleiben? Ein Viertel aller Menschen im Ahrtal lebt weniger als 200 Meter von der Ahr entfernt. Sollen sie alle wegziehen? Es ist eine Abwägung.

Dass Hiltings Haus schon wieder bezogen werden kann, hat mehrere Gründe. Als Gas-Wasser-Installateur konnte er viele Arbeiten selbst übernehmen, musste nicht auf Handwerker warten. Er und seine Frau mussten auch nicht auf Gutachten für die Aufbauhilfe warten, da sie auf diese keinen Anspruch haben. In Nordrhein-Westfalen haben auch Käu­fe­r:in­nen von Fluthäusern Anspruch, in Rheinland-Pfalz nicht.

Hilting hätte die Aufbauhilfe aber auch nicht angenommen, sagt er. „Natürlich auch keine anderen Gelder, keine Spenden. Das wäre unfair gewesen. Ich hatte ja keinen Schaden.“ Das Haus haben er und seine Frau aufgrund der Schäden zwar günstiger bekommen, aber zusammen mit dem, was sie reinstecken mussten, hätte man auch neu bauen können, sagt er. Er sei kein Flutopfer, aber eben auch kein Profiteur, das ist ihm wichtig.

Tatsächlich hat sich die Sorge, dass sich reihenweise Schnäppchenjäger oder Investoren billig Bauland und Häuser sichern, um sie irgendwann teuer zu verkaufen, nicht bestätigt. Das Interesse an Fluthäusern sei nicht größer als an anderen Bauruinen, sagen Makler.

Dass Hilting und seine Frau nun im Grunde auf einer Dauerbaustelle wohnen mit den vielen Fluthäusern um sie herum, stört sie nicht. „Der Aufbau geht voran, wenn auch langsam“, sagt Hilting. Er und seine Frau sind jetzt ein Teil davon.

Der Architekt

Bert Haag steht im Wald und schaut auf eine Ruine. Vor ihm fließt der Armuthsbach, ein Zufluss der Ahr. Direkt hinter dem Bach steht ein einsames Gebäude, das in der Flutnacht regelrecht zerschnitten wurde: die Daubiansmühle. Ein verwinkeltes Fachwerkensemble, wenige Autominuten von Schuld entfernt, das früher, also vor der Flut, einen Gasthof beherbergte. Haag guckt auf die Daubiansmühle wie in ein offenes Puppenhaus. Er schaut auf Zwischendecken, blickt in das halbe Badezimmer im dritten Stock, in das halbe Wohnzimmer darunter. Am Fenster der hinteren Wand hängen noch Gardinen. Bert Haag, schwarzer Anzug, 64 Jahre, betrachtet die Ruine und schweigt. Als er seine Fassung gefunden hat, sagt er: „Ich wünsche mir so sehr, dass diese Mühle am Standort wiederaufgebaut wird.“

Ein Mann mit schwarzem Sakko sitzt an einem Schreibtisch

Architekt Bert Haag berät die Menschen beim Wiederaufbau Foto: David Klammer

Bert Haag ist Architekt. Jeden Donnerstagmorgen kommt er aus dem rund 150 Kilometer entfernten Ingelheim nach Schuld. Die Architektenkammer Rheinland-Pfalz hat ihn kurz nach der Flut gefragt, ob er sich vorstellen könne, beim Aufbau zu helfen. Finanziert wird seine Arbeit vom Land Rheinland-Pfalz und vom Landkreis Ahrweiler. Es ist kein Job, um sich als Architekt zu profilieren. Man plant nicht selbst, erschafft nichts Eigenes. Man berät und vermittelt. Bert Haag zögerte nicht. Er sagt: „Das ist eine Herzensangelegenheit. Für mich geht es darum, die dörfliche und das Ahrtal prägende Substanz zu erhalten.“

Donnerstags und freitags öffnet Haag sein Büro, einen umfunktionierten Container, der vor der Sankt-Gertrud-Kirche steht. Von dort aus unterstützt er die Menschen in Schuld beim Aufbau ihrer Häuser. Haag hilft ihnen dabei, Gut­ach­te­r:in­nen zu finden, die prüfen, was in einem Haus saniert werden kann und was abgerissen werden muss. Die Gut­ach­te­r:in­nen errechnen auf dieser Grundlage auch die Höhe der Aufbauhilfe, die beantragt werden kann. Haag prüft diese Gutachten und gibt sie dann zusammen mit den Betroffenen in das Online-Antragsverfahren ein. Hier und da hilft er auch bei ganz praktischen Entscheidungen: Wie lange muss getrocknet werden? Wie weit muss der Putz entfernt werden? „In den Wochen nach der Flut waren Gott sei Dank jede Menge Helfer da, aber zu wenige, die Auskunft darüber geben konnten, was genau zu tun sein sollte“, sagt Haag. Was er meint: Es fehlten Profis. Es fehlten Leute wie Bert Haag.

Aktuell betreut Haag den Aufbau von 17 Gebäuden. Bei der Daubiansmühle kann er nicht viel tun. Die Ei­gen­tü­me­r:in­nen haben eigenständig einen Gutachter gefunden. Haag hätte, vorsichtig formuliert, einen anderen empfohlen. „Wenn hierzu meine Unterstützung gebraucht wird, stehe ich zur Verfügung“, sagt er.

Sein Container auf dem Kirchenvorplatz ist sachlich eingerichtet. Ein Schreibtisch, ein Tisch, auf dem ein Drucker steht, ein Schrank für Akten. An der Wand hängen zwei Satellitenbilder von Schuld. Eins zeigt die Dächer und die Ahr, die sich um das Dorf schlängelt. Das andere zeigt ein Bild der Verwüstung, die Uferlinien der Ahr sind nicht zu erkennen, Häuser fehlen. Das Foto wurde wenige Tage nach der Flut aufgenommen. Aus Sicht eines Hochwasserschützers könnte Schuld nicht schlechter liegen. Die Ahr zieht zwei kleine und eine große Schlaufe um den Ort, auf Google Maps sieht es wie der griechische Buchstabe Omega aus. Auch deswegen war die Zerstörung in Schuld besonders heftig.

Ein von der Flut halb zerstörtes Fachwerkhaus

Die Daubiansmühle beherbergte vor der Flut einen Gasthof Foto: David Klammer

Fragt man die Menschen in Schuld, was sie glauben, wie lange der Aufbau dauert, bekommt man Antworten von zwei bis zehn Jahren – je nachdem, ob es ihnen um das Nötigste geht, wie die Asphaltierung der Straßen und die Rückkehr des Bäckers, oder ob sie einen Ort im Kopf haben, dem man die Katastrophe vom 14. Juli 2021 auf den ersten Blick nirgends mehr ansieht. Haags Maßstab ist das Ortsbild, das große Ganze. Fünf Jahre, glaubt er, wird es dauern, bis dieses wieder weitgehend hergestellt ist. Bis nur noch kleine Narben sichtbar sein werden.

Haag hat das Sakko ausgezogen, die Wärme drückt in den nicht klimatisierten Container. „Viele, vor allem ältere Menschen, sind von dem Verfahren der Wiederaufbauhilfe online überfordert“, sagt Haag. Für ein Fachwerkhaus brauche man einen anderen Gutachter als für ein Fertighaus. Gleiches gelte für die Handwerker. Da würden einige den Überblick verlieren, ganz zu schweigen davon, dass manche Ältere keinen Internetzugang haben, um den Antrag über das Onlineportal zu stellen.

Die größte Herausforderung aber, so Haag, sei die Moral, das Durchhaltevermögen. Manche finden einfach die Kraft nicht. Er erzählt von einer Familie, die einen alten Hof, ein Fachwerkensemble aus mehreren Gebäuden, hatte. „Es ist das komplette Torhaus weggeschwemmt worden“, sagt er. Die Besitzer, ein Ehepaar über 70, hatten schon abgeschlossen mit dem Hof, sie sahen sich nicht in der Lage, Anträge zu stellen, Bau­ar­bei­te­r:in­nen und Hand­wer­ke­r:in­nen zu finden, um in Monaten, wenn nicht Jahren wieder einen intakten Hof zu haben. „Den Menschen muss man die Angst vor dem Verfahren nehmen und die Begeisterung zum Wiederaufbau erwecken“, sagt Haag. In dem Fall sei ihm das gelungen.

Das Beispiel zeigt, was ihn antreibt. Er will die Struktur des Ortes, seine Kleinteiligkeit, die Höfe und das Fachwerk erhalten. „Man muss den Ort nicht wie eine Modellbahnlandschaft wieder nachbauen“, sagt er. „Die Flut war eine Zäsur, und die wird und soll sichtbar bleiben. Dem Aufbau muss die Tradition und die ländlichen Gegebenheiten des Ahrtals zu Grunde gelegt werden. Übereifer ist ebenso schädlich wie Mutlosigkeit und Lethargie. Der Mensch im Tal und dessen Zukunft im Tal bilden die Herausforderung und den Fokus eines jeden Planers und Architekten.“

Haag tritt zum Abschied noch mal aus dem Container auf den Kirchenvorplatz, der auf einer kleinen Anhöhe liegt. Er blickt ins Ahrtal und auf Schuld. „Ich habe das Bild vor Augen“, sagt er.

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