Davis: Wenn wir jetzt nicht handeln, wird die Bewältigung der Klimakrise noch viel teurer. Und den Menschen muss klar sein, was noch auf sie zukommt – zum Beispiel, dass wir in Berlin bald Wasserknappheit haben werden. Wir erleben aktuell schon eine Hitzewelle und den fünften Dürresommer in Folge.
Nun sind Initiativen, die einen Volksentscheid anstreben, genau dafür da, Forderungen Nachdruck zu verleihen, deren Bedeutung die Parteien verkennen oder schlicht als nicht umsetzbar ansehen. Es geht auch um – vermeintliche – Utopien, das hat ja DW enteignen gezeigt.
Davis: Wir sehen unsere Rolle darin, der Politik zu verdeutlichen, dass die Zivilgesellschaft und die Bürger*innen tatsächlich bereit sind für viel mehr Klimaschutz. Wir haben in den vergangenen drei Jahren mehrere Unterschriftensammlungen gemacht, wir haben mit mehr als 200.000 Berliner*innen auf der Straße gesprochen – und immer war Offenheit für dieses Thema da. Zu keinem anderen Thema wird sich schneller und umfassender geäußert.
Wissen die Leute wirklich, worum es da geht? Verstehen sie die Auswirkungen?
Davis: Ja. Die Menschen wissen, es geht um Klimaneutralität in acht Jahren. Ich habe auch heute noch mal eine Umfrage gesehen, wonach die Mehrheit der Deutschen mehr Klimaschutz möchte, und auch, dass das per Gesetz durchgesetzt wird.
Graf: Die Leute sagen: „Klimaschutz: ja, ja, ja!“ Aber wenn es dann darum geht, dass wir aus der Bergmannstraße in Kreuzberg – also im Herzen eines grün regierten Bezirks – die Autos rausnehmen wollen, dann schreien selbst dort Menschen auf, weil sie ihr Auto behalten wollen. Vor diesem Hintergrund bringt es gar nichts, wenn wir jetzt ein paar Jahre lang Klimaschutzpolitik machen, der allen wirklich wehtut, und danach uns die Leute den Vogel zeigen und sagen: Angesichts dieser sozialen Auswirkungen machen wir nicht mehr mit.
Davis: Die Empfehlungen des Klimabürger:innenrats wurden vor zehn Tagen an die Politik übergeben. Der Rat empfiehlt unter anderen, das Autofahren unattraktiver zu machen mit dem Ziel, dass „in der Innenstadt grundsätzlich nicht mit dem Auto gefahren wird“. Er empfiehlt, dass sogar ab nächstem Jahr keine Verbrenner mehr neu angemeldet werden sollten. Für uns wird daraus klar: Wenn den Bürger:innen wirklich klar kommuniziert wird, was die Folgen der Klimakrise bedeuten und sie an den Lösungen beteiligt werden, befürworten sie die nötigen Maßnahmen für rasche Klimaneutralität.
Graf: Der Klimabürger*innenrat hat Dutzende von Maßnahmen empfohlen, die wirklich was bringen: City-Maut, Parkplätze abschaffen, Entsiegelung, Ernährungswende. Aus meiner Sicht könnten wir diesen Bericht sofort im Senat beschließen und angehen. Statt über eine Jahreszahl zu diskutieren, sollten wir lieber diese Ergebnisse umsetzen.
Was ist denn bisher in Berlin erreicht worden?
Graf: Berlin ist im Klimaschutz Vorreiter. Wir haben als erstes Bundesland die Klimanotlage ausgerufen, wir haben jetzt schon den größten Elektro-Fuhrpark Europas bei öffentlichen Verkehrsmitteln, wir sind das erste Bundesland, das ein Gesetz erlassen hat, dass die Fernwärme dekarbonisiert werden muss. Verglichen mit anderen Bundesländern haben wir die geringste CO2-Emission pro Kopf und in den letzten Jahren überdurchschnittliche CO2-Einsparungen erreicht.
Davis: Wir sagen gar nicht, dass nichts passiert. Wir sagen, dass nicht genug passiert, um das 1,5-Grad-Ziel zu schaffen. 2030 ist ambitioniert, keine Frage, aber wie Herr Graf gesagt hat: Das Land hat – übrigens dank unserer Initiative – die Klimanotlage erklärt, und wir müssen entsprechend einer Notsituation ambitioniert handeln.
Graf: Es gibt die Wissenschaft, die uns mahnt, dass diese Kipppunkte auf uns zukommen. Wir müssen jetzt alles tun, damit wir die nicht überschreiten. Auf der anderen Seite dürfen wir die Wissenschaft auch nicht negieren und sagen, es geht eben auch hier nicht um den Glauben. Sie sagen ständig: „Wir glauben, dass wir es schaffen.“ Aber wo ist der Plan? Wir müssen schauen, welche Maßnahmen wir umsetzen können, etwa im Verkehr. Daher kämpfen wir für eine City-Maut, auch wenn wir uns damit in den Koalitionsverhandlungen leider nicht durchgesetzt haben. Da müssen wir noch mal ran. Wir brauchen eine Zero-Emission-Zone in Berlin bis 2030.
Frau Davis, was heißt für Sie konkret, „entsprechend einer Notsituation“ zu handeln?
Davis: Wir müssen jetzt alles schneller machen. Etwas passiert ja auch schon: Die Radwege kommen endlich, der Bund ermöglicht das 9-Euro-Ticket. Und wir brauchen weniger Bürokratie und schnellere Prozesse in der Verwaltung. Wir müssen Hürden abbauen.
Graf: Sehr viele angebliche Hürden in der Verwaltung sichern Ökologie und Naturschutz und machen Sinn. Wenn ich die Hürden reduziere und dafür fünf Fahrradwege ein paar Monate schneller bauen kann, auf der anderen Seite aber immense Flächen mit Beton versiegelt und eben nicht woanders ausgeglichen werden, bringt uns das überhaupt nichts. Hürden wegnehmen – das ist doch neoliberaler Sprech.
Davis: Es geht nicht um neoliberale Verschlankungen, die Umwelt- und Sozialauflagen abschaffen. Es geht darum, dass zum Beispiel die Abstimmung zwischen Bezirken und Land vereinfacht oder Umschulungen und Quereinstiege für Ingenieursberufe erleichtert werden. Auch bei der Mobilität könnten Genehmigungsprozesse recht einfach beschleunigt werden. So würden wir die Stadt schneller emissionsfrei bekommen.
Graf: Sie meinen die Ladesäulen für E-Autos?
Die Sammlung Am 16. Juli beginnt die Initiative Klimaneustart Berlin mit der Sammlung von Unterschriften für das Volksbegehren „Berlin 2030 klimaneutral“. Dazu müssen rund 175.000 wahlberechtigte Berliner*innen die Forderungen der Initiative unterstützen. Gelingt dies, erhält das Abgeordnetenhaus die Möglichkeit, diese Forderungen komplett zu übernehmen – was wohl nicht geschehen wird. Andernfalls kommt es zum Volksentscheid, der wie eine Wahl abläuft. Dann müsste die Mehrheit der Abstimmenden und gleichzeitig mindestens ein Viertel aller Berliner Wahlberechtigten ihr Kreuzchen für die Ziele der Initiative machen.
Die Ziele Das Bündnis „Klimaneustart Berlin“ hat das Volksbegehren 2021 auf den Weg gebracht, weil aus seiner Sicht die Maßnahmen des Landes nicht ausreichen, um das Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens einzuhalten: die Begrenzung der durchschnittlichen Erderwärmung auf 1,5 Grad. Gelingt das nicht, so die Argumentation, würden zu viele Kipppunkte im Klimasystem überschritten und „katastrophale Folgen“ könnten nicht mehr abgewendet werden. Auf Berlin umgerechnet müssten deshalb die Emissionen von CO2 und anderen Klimagasen schon bis 2025 um 70 Prozent und bis 2030 um 95 Prozent gegenüber dem Basisjahr 1990 reduziert werden.
Der Senat Klimaschutzsenatorin Bettina Jarasch (Grüne) lehnte das Volksbegehren Anfang Mai als „nicht zielführend“ ab. Der Senat unterstütze zwar das Ziel – mehr Klimaschutz –, „aber eine Verschärfung der Zielzahl allein wird uns nicht klimaneutral machen“. Als auch das Abgeordnetenhaus eine Übernahme des Gesetzentwurfs im Juni abgelehnt hatte, wurde der Weg frei für die zweite Stufe des Volksbegehrens. (bis)
Davis: Genau.
Graf: Auch da wäre ich vorsichtig. Bei den Ladesäulen führen wir die Debatte: Wo stellen wir die auf? Und es gibt Personen, die wollen die Hürden senken, damit sie die Ladesäulen so positionieren können, damit da kein Fahrradweg mehr gebaut werden kann, weil der Parkplatz mit Ladesäule dann eben nicht mehr für den Radweg weichen kann. Das wollen wir nicht. Uns ist lieber, dass die Leute Fahrrad statt Auto fahren, auch wenn es ein Elektroauto ist. Der beste Autoverkehr ist der, der nicht stattfindet.
Frau Davis, würden Sie sagen, dass man, um ein ambitioniertes Programm voranzutreiben, andere Dinge einfach mal außer Acht lassen muss?
Davis: Schwierig. Eigentlich geht es nicht um die drei großen Maßnahmen, es geht um die vielen kleinen. Das ist der Hebel. Wir sehen, dass solche Veränderungen besser funktionieren und angenommen werden, wenn die Menschen in die Entscheidung eingebunden werden. Dennoch muss Berlin Genehmigungsprozesse schlanker machen. Dazu gehört auch, mehr Mitarbeiter*innen einzustellen. Bei einer Veranstaltung hat eine Mitarbeiterin des Bezirksamts Schöneberg gesagt, dass sie momentan nicht mehr hinkriegen beim Klimaschutzprogramm, weil sie unterbesetzt sind.
Graf: Mehr Personal – das betrifft ja viele Bereiche. Aber da sind wir wieder bei dem Problem: Wenn wir den Umbau der Stadt etwa beim Verkehr wollen, brauchen wir Planer:innen. Davon gibt es im Augenblick aber einfach nicht genügend.
Kommen wir mal zu den Kosten: Woher soll das Geld für den schnellen Klimaschutz kommen?
Davis: Die Bundesregierung muss mehr in die Pflicht genommen werden, die Klimawende in den Städten mitzufinanzieren. 70 Prozent der Emissionen werden von Städten verursacht. Und Berlin muss mehr Druck auf den Bundesrat machen. Auch muss es Förderprogramme geben, damit energetische Sanierung nicht auf Kosten der Mieter:innen geht. Dafür könnte der Bund die CO2-Steuer erhöhen. Letztlich ist das nur eine Frage der Priorisierung. Für die Coronakrise und den Ukrainekrieg hat die Bundesregierung – berechtigterweise – plötzlich viel Geld gefunden.
Graf: Richtig, Berlin kann nicht alleingelassen werden. Und ja, Geld vom Bund und der EU nehmen wir gern. Aber das ändert nichts am faktischen Problem: Zu suggerieren, das ist jetzt alles möglich, wenn man es nur will, das stimmt nicht.
Welche Zeitspanne ist denn für Sie realistisch, Herr Graf?
Graf: In unserem Wahlprogramm haben wir 2035 angepeilt – wenn man nur die Faktoren berechnet, für die Berlin direkt verantwortlich ist. Ernährung – ein ganz wichtiger Faktor – ist bei den Sektoren im Gesetz ja gar nicht dabei. Ginge es nur nach uns, möchten wir bis 2035 unsere Gebäude klimaneutral umbauen. Allein für die städtischen Gebäude würden wir dafür 15 Milliarden Euro brauchen.
Und daran ist nichts mehr zu beschleunigen?
Graf: Selbst für 2035 kennen wir noch nicht alle Konzepte, wie wir es umsetzen wollen. Die Studien, die ich für realistisch halte, gehen von frühestens 2040 aus.
Davis: Sie haben ein Ziel im Wahlprogramm ausgegeben, aber wissen nicht, wie Sie dahin kommen?
„Wir müssen jetzt alles schneller machen“
Jessamine Davis, Klimaneustart
Graf: Bei den Gebäuden, beim Fuhrpark und Ähnlichen halte ich 2035 für machbar.
Der Unterschied zwischen 2030 und 2035 ist ja nicht so riesig. Gäbe es da nicht die Möglichkeit eines Kompromisses?
Davis: Hm. Ein Kompromiss wäre damit verbunden, dass wir die 1,5-Grad-Grenze aufgeben.
Graf: Wir müssen uns jetzt in die harte Detailarbeit der Umsetzung der Maßnahmen hineinbegeben. Ich kämpfe seit so langer Zeit dafür, dass dieses Thema ernst genommen wird. Wir sind jetzt in einer Situation, in der tatsächlich eine große Gruppe in dieser Gesellschaft das auch will. Diese Chance dürfen wir nicht verspielen, indem wir nur für eine Zahl eine Mehrheit organisieren.
Um noch mal auf die Frage zurückzukommen: Ist der Unterschied zwischen 2030 und 2035 so groß, dass kein Kompromiss möglich ist?
Graf: Schon, weil wir etwas anderes gesagt haben. Für die Bereiche, auf die Berlin direkten Einfluss hat, halten wir das Ziel 2035 für machbar. Für den Rest dauert es leider noch länger.
Macht Ihnen die Klimakrise eigentlich Angst?
Graf: Angst ist für mich persönlich kein Motivator. Ich will unseren Planeten retten. Ich würde mich eher als kampfeslustig bezeichnen. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um die Klimakatastrophe abzuwenden und eine klimaresiliente Stadt aufzubauen.
Davis: Unser großer Antreiber ist Hoffnung. Wir glauben an eine positive, gerechte Zukunft für alle. Wir glauben daran, dass sie möglich ist, und darauf arbeiten wir hin. Wir wollen, dass Berlin seiner Verantwortung dem Globalen Süden gegenüber gerecht wird. Und wir sind auch Leute, die sehr gern in Berlin wohnen und das gern weiterhin tun möchten. Unsere Motivation kommt also auch daher, die tollen Sachen, die diese Stadt ausmacht, vor der Klimakrise retten zu wollen. Aber wir spüren auch Angst, auch ich persönlich. Ich weiß nicht, wie die Situation in 15 Jahren sein wird, wenn die Politik jetzt versagt.
Irgendwie habe ich gerade das Gefühl, es sitzen sich hier wieder zwei Generationen gegenüber, genau so wie die Grünen Anfang der 1980er mit ihrer radikalen Forderung nach einem Atomausstieg den Konservativen und der SPD gegenüber saßen.
„Berlin ist beim Klimaschutz Vorreiter“
Werner Graf, Die Grünen
Graf: Na danke. Das sehe ich komplett anders. Als in Wackersdorf demonstriert wurde, standen ja auf der anderen Seite nicht Personen, die gesagt haben: „Ja, Atomkraft ist scheiße, aber wir brauchen sie noch.“ Da standen Menschen, die gesagt haben: „Atomkraft ist toll.“ Hier sitzen zwei Personen, die sagen: „Wir brauchen den schnellstmöglichen Klimaschutz, der irgendwie möglich ist.“ Es geht um die Debatte, was mehr hilft: kämpfen für eine Jahreszahl oder der Kampf für konkrete Maßnahmen.
Davis: Wir sagen: Die Maßnahmen sind da – es liegen Studien und Maßnahmenpakete vor – aber der politische Wille fehlt. Um die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten, müssen diese Maßnahmen jetzt von der Politik mit Beteiligung der Bevölkerung umgesetzt werden. Und, Herr Graf, weil Sie immer fordern, dass wir Ihnen weitere Maßnahmen vorlegen: Wir sind eine weitgehend ehrenamtliche Initiative. Wir sind kein millionenschwerer Thinktank.
Graf: Entschuldigung, aber dann dürfen Sie kein Gesetz vorlegen. Sie wollen, dass diese Stadt ein Gesetz verabschiedet, von dem am Ende niemand weiß, wie es technisch umzusetzen ist. Wir wissen es jedenfalls nicht.
Davis: Dann muss man ehrlich sein mit dem 1,5-Grad-Ziel.
Graf: Wir werden für konkrete, radikal vernünftige Maßnahmen kämpfen.
Mitarbeit: Claudius Prößer