Für eine Handvoll Euro

Werkstätten für Behinderte sind keine kleinen Bastelstuben mehr. Sie bilden in Deutschland einen Niedrigstlohnsektor. Beschäftigte fordern Reformen und bessere Bezahlung. Ein Besuch bei der Lebenshilfe in Bremerhaven, die auch Rüstungsgüter produziert

Der Aufenthaltsraum der Werkstatt in Bremerhaven. Die Werkstätten bieten Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance hätten, einen Ort der Begegnung und Beschäftigung. Andererseits sind sie ein Niedriglohn-Sektor, der Behinderte vom ersten Arbeitsmarkt separiert.

Aus Bremerhaven Jean-Philipp Baeck,
Fotos Allegra Schneider

Als Thomas Rietzke die Außentür öffnen will, hakt es. Noch läuft nicht alles rund, die Werkstatthalle der Lebenshilfe ist gerade neu. Sie steht in einem Gewerbegebiet in Bremerhaven-Leherheide. Rietzke trägt ein hellblaues Kurzarmhemd mit kleinen Karos, dazu Jeans und Turnschuhe. Dass das Türschloss nicht richtig funktioniert, kommentiert er milde genervt – als Betriebsleiter hat er hier alles zu verantworten. Rund 400 ­Menschen mit Behinderung arbeiten in der Werkstatt in Leherheide. Es gibt hier unter anderem einen Fahrradladen, eine Holzwerkstatt, eine Arbeitsgruppe für Gartenbau und eine Bäckerei.

Rietzke führt mit Karina Griese durch die Halle. Griese, weiße Bluse, dunkelblaue Strickjacke, ist vom Werkstattrat, der die Interessen der Menschen mit Behinderung vertritt. Innen gehen von einem weißgestrichenen Flur Sanitärräume und Umkleidekabinen mit Metallspinden ab, gegenüber liegt die Montagehalle. An Werkbänken sitzen Gruppen von MitarbeiterInnen, mal zu zweit, mal zu viert, mal zu sechst um eine Tischinsel, manche im Rollstuhl, manche ohne sichtbare körperliche Behinderung. Auf hohen Metallregalen stehen Kisten und Paletten, an meterlangen Kabeln hängen gelbe Starkstrom-Anschlüsse bis herunter zu den Arbeitstischen. Griese und Rietzke werden herzlich begrüßt. Alle kennen die beiden, Griese ist seit 13 Jahren hier, Rietzke seit 19.

Auf den Tischen stehen Boxen mit jeder Menge kleinen roten Kappen und fingerdicken gelben Röhren, etwa zehn Zentimeter lang. Es sind Hülsen für Seenotfackeln der Firma Wescom. Das Unternehmen hat in Bremerhaven einen Ableger für zivile maritime Notsignale, aber auch eine Rüstungssparte namens „Defence“ mit Pyrotechnik fürs Militär. Werbevideos auf der Firmenwebseite zeigen, wie Soldaten in Kampfmontur mit Sturmgewehren durch das Dickicht schleichen und Signalfackeln zünden. Geworben wird für Rauchgranaten und taktische Beleuchtungssignale, die „im Gefecht Leben retten“.

Werkstätten für Menschen mit Behinderung bieten jenen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt ohne weitere Unterstützung keine Chance hätten, einen Ort der Begegnung und Beschäftigung. Andererseits sind sie ein Niedriglohnsektor, der Behinderte vom ersten Arbeitsmarkt separiert und mit dem sich Unternehmen aus der Verantwortung kaufen, mehr echte Inklusion in ihren Betrieben einzuführen.

Längst sind Werkstätten keine Bastelstuben mehr, die nur Holzspielzeug und Seifenschalen herstellen, wie sie auch im Shop der taz erhältlich sind. Heute vergeben viele Firmen Aufträge an Werkstätten, die sich günstiger per Hand als maschinell erledigen lassen: Dienstleistungsaufträge, Verpackungen, Versand, Gartenarbeiten, Montage und Vorarbeiten für die industrielle Produktion. Menschen mit Behinderung fertigen Autoteile für Mercedes Benz, verschicken Werbematerial für Fritz-Kola, sortieren Klapp­boxen für die Drogeriekette dm.

Aber Rüstungsgüter wie für Wescom? Ahnen die Menschen mit Behinderung, was sie da produzieren? Können sie sich bewusst dafür entscheiden?

Dazu hatte die taz eine Zuschrift von einem Pflegevater erreicht. Er habe eines seiner Kinder besucht, das derzeit in der Bremerhavener Werkstatt tätig sei. „Wir waren verwundert, dass dort Auslöser zusammengebaut werden, offenbar für die Bundeswehr“, schreibt er und schickt mehrere Fotos mit. Sie zeigen fingerdicke kupferfarbene Hülsen, dünne Metallstifte und Springfedern, die sich in Plastikboxen stapeln. Ein Waffenexperte bestätigt der taz: Die Fotos zeigen „mechanische Auslöser für Bodenleuchtkörper“. Im Fachjargon: „DM 26 und DM 57“.

Bundesweit arbeiten über 300.000 Menschen in rund 3.000 Werkstätten für behinderte Menschen. Deren Auftrag ist es, erwerbsgeminderte Menschen ins Arbeitsleben einzugliedern, eine Tagesstruktur zu geben, sie weiterzubilden, ihre Arbeitsfähigkeit herzustellen, sie in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Die Beschäftigen werden gesetzlich als „arbeitnehmerähnlich“ definiert. Sie haben einen weitgehenden Kündigungsschutz und nach 20 Jahren Anspruch auf volle Erwerbsminderungsrente. Sie dürfen nicht streiken und erhalten keinen Mindestlohn. Erwirtschaftet wird ihr Lohn aus den Aufträgen, deren Ergebnis zu 70 Prozent ausgezahlt werden muss. 30 Prozent dürfen zurückgelegt werden. Das durchschnittliche Arbeitsentgelt lag 2019 bundesweit bei 224 Euro (von 170 Euro in Sachsen bis zu 268 Euro in Bayern). Aufgestockt mit Grundsicherung, standen privat wohnenden Werkstattbeschäftigten 2019 durchschnittlich 973 Euro zur Verfügung. Der Betrieb der Werkstätten wird aus Kostensätzen der öffentlichen Hand finanziert, vor allem durch kommunale Eingliederungshilfe, Arbeitsagentur und Unfallversicherung.

Individuell engagieren sich die Bremerhavener Betreiber und MitarbeiterInnen alle für soziale Belange. Wird es dem Thema gerecht, die Arbeit in einer einzelnen Werkstatt zu brandmarken?

Betriebsleiter Rietzke spricht offen über die Aufträge von Wescom. Früher hätten sie mehr für die Rüstungssparte gearbeitet, heute gehe es überwiegend um deren Seenotrettungs-Artikel. Er holt eine Kiste mit allerlei Teilen hervor, die die Werkstatt für Wescom bearbeitet. Keine Sprengstoffe oder Waffen, das ist ihm wichtig, sondern Papprollen, gelbe Hüllen für Seenotfackeln, aber auch die Auslöser mit einem Stolperdraht. Der wird an Kartuschen mit Leuchtmitteln montiert, um militärische Lager zu schützen und vor Eindringlingen zu warnen.

Wissen die Menschen mit Behinderung nun, an was sie da arbeiten? Berichte über die Produktion solcher Teile durch die Lebenshilfe gab es bereits 2013. Damals sei in Bremerhaven ausführlich darüber diskutiert worden, auch unter Einbeziehung der Beschäftigten. Werkstatträtin Griese erklärt, dass ihre KollegInnen mit der Produktion einverstanden seien. „Die Bundeswehr hilft im Notfall, da können wir ihr auch helfen“, sagt sie. „Wir produzieren nur Dinge für deren Schutz, kein Kriegsgerät. Es ist wichtig, dass sich die Soldaten selbst schützen.“

Nicht immer wisse er bei jedem Teil, wofür es gut ist, sagt Rietzke. Und vermutlich wissen es auch nicht alle Beschäftigten immer genau. Aber so, wie Griese es vorträgt, klingt es keineswegs ahnungslos. Sie weiß auch, dass der Auftrag ihren Lohn sichert. „Die Geschäftsbeziehungen zu Wescom sind für uns existenziell“, sagt Rietzke. Es gebe in Bremerhaven nicht allzu viele Auftrag­geber aus der Industrie.

Für die Firmen lohnt sich die Produktion in einer Werkstatt in mehrfacher Hinsicht. Sie werben mit sozialem Engagement und können Kosten sparen – unter anderem bei der sogenannten Ausgleichsabgabe. Die soll eigentlich mehr Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt bringen. Dafür gibt es viele Unterstützungsmöglichkeiten, wie Lohnzuschüsse, persönliche Arbeitsassistenzen oder technische Hilfsmittel.

Im Sinne der Inklusion sind Arbeitgeber ab 20 Arbeitsplätzen verpflichtet, mindestens 5 Prozent ihrer Stellen mit Schwerbehinderten zu besetzen. Ansonsten ist eine gestaffelte Abgabe an das Integrationsamt fällig. Doch wer Behindertenwerkstätten beauftragt, kann die Hälfte der Rechnung mit dieser Ausgleichsabgabe verrechnen. Manche Werkstätten, wie die der Caritas im Westerwald, werben offensiv mit dieser Ersparnis für Unternehmen und stellen Beispielrechnungen an.

„Die Firmen setzen einerseits auf unsere Arbeit, andererseits wollen sie sie nicht Arbeit nennen“

Ela, Werkstattarbeiterin

Auch die Arbeit ist in Werkstätten günstig. 2009 las man in einem Firmenporträt in der Wirtschaftswoche, wie beispielsweise der Kinderfahrzeughersteller Puky es schafft, ausschließlich im „Hochlohnland Deutschland“ zu produzieren: Möglich sei das nur durch die Zusammenarbeit mit Behindertenwerkstätten. Die eigenen MitarbeiterInnen bearbeiteten und beschichteten zwar das Metall, „für das Zusammenschrauben eines Fahrrads sind die Löhne in Deutschland aber zu hoch“, erklärte der damalige Geschäftsführer gegenüber der Zeitung.

Die Kritik an solchem Geschäft wurde in den letzten Monaten immer lauter. Eine Petition fordert den Mindestlohn, Werkstatträte ein Basisgeld. Seit Mitte Juni prangern Beschäftige unter dem Hashtag #ihrbeutetunsaus auf Twitter die Arbeitsbedingungen in den Werkstätten an. Mit Fotos, etwa von unappetitlichem Essen aus einer Kantine, wurde über die sozialen Medien sichtbar, was oft verdrängt wird.

Ins Leben gerufen hat die Schlagwort-Kampagne die 35-jährige Ela, die sich auf Twitter „Johannisbeere“ nennt. „Es wird vermarktet, dass wir behindert sind“, sagt sie der taz. „Das ist das falsche Bild. Wir müssen Qualität liefern und arbeiten für namhafte Unternehmen. Wenn die Gesellschaft das erst einmal anerkennt, gehört auch eine bessere Bezahlung dazu“, sagt sie.

Seit über zwei Jahren arbeitet Ela in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Sie ist psychisch erkrankt. Derzeit lebt sie in einer Einzimmer­wohnung in einer Stadt in Süddeutschland. Genauer möchte sie es nicht in der Zeitung lesen, auch ist Ela nur ihr Spitzname. Sie befürchtet Stigmatisierung. Griffe für Bohrmaschinen hat sie schon hergestellt, Schleifpapier verpackt, gläserne Schubladen-Fronten kontrolliert. Derzeit beklebt Ela Pferdekoppeln für den Spielzeughersteller Schleich. Auch Plastikteile für dessen Pferdeanhänger hat sie schon zusammengesetzt.

Ela mag ihre KollegInnen. Die Werkstätten möchte sie nicht abschaffen, sondern verbessern. „Einerseits setzen die Firmen auf unsere Arbeit, andererseits wollen sie es aber nicht Arbeit nennen“, sagt sie. Beschäftigte in den Werkstätten werden per Gesetz als „arbeitnehmerähnlich“ definiert. Dafür haben sie einen weitgehenden Kündigungsschutz, dürfen aber auch nicht streiken und fallen nicht unter den gesetzlichen Mindestlohn.

Ihr Arbeitstag beginnt morgens um 9 Uhr und endet um 13.45 Uhr. Die meisten ihrer KollegInnen seien länger da, erzählt sie, von 7.40 Uhr bis 15 Uhr. Aber bei ihr habe der Arzt zu einem kürzeren Arbeitstag geraten. Abzüglich zweier kleinerer Pausen und einer Mittagspause arbeitet Ela 3,5 Stunden pro Tag. Dafür bekommt sie ein Arbeitsentgelt von rund 250 Euro pro Monat. Der Bundesdurchschnitt liegt bei monatlich rund 224 Euro. Durch die Grundsicherung wird Elas Geld aufgestockt, sodass sie im Monat von ungefähr 800 Euro lebt. Auch das ist keine unübliche Summe.

Beschäftigte in den Werkstätten übernehmen vor allem Tätigkeiten, die sich günstiger per Hand als maschinell erledigen lassen: Dienstleistungsaufträge, Verpackungen, Versand, Gartenarbeiten. Oder, wie hier: Fahrradreparaturen

In der Halle in Bremerhaven beugen sich zwei Frauen über einen Werktisch. Sie rupfen Saugeinlagen aus Plastikschalen, wie man sie von Hackfleischverpackungen aus dem Supermarkt kennt. Einlagen nach links, Schalen nach rechts. Stapelweise. Hinter ihnen stehen weitere Paletten mit weiteren Plastikschalen und weiteren Saug­tüchern. Eine eintönig erscheinende Arbeit.

Ein Mann kommt von einer der Tischgruppen hinzu. Er heißt Boris Cohrs, trägt T-Shirt und eine lockere Hose und ist schon fast so lange hier wie Betriebsleiter Rietzke. Cohrs spielt auch in der Band der Lebenshilfe und trommelt auf der Cajón, einer Kistentrommel. Er erzählt von den Werkstatt-Tätigkeiten. „Wenn der Auftraggeber will, dann muss es manchmal ganz schnell gehen“, sagt er. „Zack, zack.“ Er klatscht sich mit der einen Hand in die Innenfläche der anderen. Dabei wirkt er nicht gestresst, sondern stolz. Darauf, dass sie hier etwas leisten, wegschaffen, pünktlich liefern. Woran er am liebsten arbeitet? Er zeigt nach links: „An den Plastikschalen.“

Die Bremerhavener Werkstatträtin Griese erzählt, dass die Gruppe ganz hibbelig werde, wenn es nichts zu tun gibt. „Es war schrecklich, wegen der Coronapandemie Leerlauf zu haben.“ Aus Schutz vor dem Coronavirus bestand für die MitarbeiterInnen mit Behinderung im Frühjahr 2020 und 2021 für mehrere Wochen ein Betretungsverbot für die Werkstätten. In Bremerhaven übernahmen die verbliebenen MitarbeiterInnen teilweise die Arbeit, um den Betrieb am Laufen zu halten. Wie das war? Rietzkes Mund sagt: „Wir haben es schon hinbekommen.“ Sein Gesichtsausdruck sagt: mehr schlecht als recht. Er betont, dass die Arbeit anstrengend und hochwertig sei.

Wie die Stellung und Rechte der Menschen mit Behinderung unterlagen auch die Werkstätten seit ihren Anfangstagen einer Entwicklung. Analog zur zentralen Bedeutung von Arbeit und Arbeitsfähigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft war mit der Betätigung und Arbeit von behinderten Menschen auch historisch die Idee der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verbunden. Als „beschützende Werkstätten“ entstanden die Vorläufer Anfang der 1960er Jahre, das „Schwerbehindertengesetz“ schuf 1974 die Grundlage für eine Konzeption der „Werkstätten für Behinderte“, mit dem Ziel der Eingliederung Behinderter in das Arbeitsleben.

Das wäre auch heute eine ihrer Aufgaben. Doch die Vermittlungsquote in den ersten Arbeitsmarkt liegt bundesweit bei unter 1 Prozent. Das bemängeln sogar die Vereinten Nationen. Laut UN-Behindertenrechtskonvention hat jeder Mensch mit Behinderung das Recht, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. 2015 zeigte sich der UN-Fachausschuss in Bezug auf den segregierten Arbeitsmarkt in Deutschland besorgt und sah die Vorgaben mit den Werkstätten nicht erfüllt. Er empfahl deren schrittweise Abschaffung.

„Wenn der Auftraggeber will, dann muss es manchmal ganz schnell gehen“

Boris Cohrs, Werkstattbeschäftigter

Das sorgt seitdem für heiße Diskussionen. Im August 2020 beauftragte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe mit einer mehrjährigen Forschung, um Werkstätten zu reformieren.

Kein kleines Vorhaben in einer Branche, für die als Jahresumsatz die Summe von 8 Milliarden Euro kursiert. Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen muss diese Zahl jedoch differenziert betrachtet werden. Sie stamme aus einer von ihr in Auftrag gegebenen Studie von 2014 und umfasse zweierlei: einerseits das Geld, das Werkstätten durch Aufträge erwirtschaften und welches zu 70 Prozent als Entgelt an die Menschen mit Behinderung ausgezahlt werden muss. Andererseits, in deutlich größerem Umfang – etwa zwei Drittel –, die Kostensätze, als Beträge, die die Werkstätten für den Betrieb und die Unterstützung der Beschäftigten aus der öffentlichen Hand erhalten. Also beispielsweise für Personalkosten, Fahrdienste oder so­zialpädagogische Betreuung. Diese werden durch Sozialhilfe- oder Rehabilitationsträger übernommen: hauptsächlich Eingliederungshilfe, Bundesagentur für Arbeit, Unfallversicherung.

Dieser komplexen und getrennten Finanzierung entspricht auch eine zweigeteilte Bezahlung der Beschäftigten. Diejenigen, die in den Werkstätten in der Verwaltung oder als BetreuerInnen angestellt sind, werden meist nach Tarif bezahlt – oder deutlich darüber.

Beispielsweise in den Elbe-Werkstätten in Hamburg, in denen unter anderem Fritz-Kola seine Werbeartikel konfektionieren lässt: Während dort das durchschnittliche Arbeitsentgelt 2021 bei rund 270 Euro pro Monat lag, verdienten die beiden Geschäftsführer laut Jahresabschluss 2021 inklusive Tantiemen und Coronab­onus 116.000 beziehungsweise 140.000 Euro im Jahr. Allerdings: Sie managen nach eigenen Angaben die größte Werkstatt Deutschlands, die rund 3.100 Menschen mit Behinderung einen Arbeitsplatz bietet, zuletzt mit einem Umsatzerlös von 92 Millionen Euro. Für ein Unternehmen dieser Größe ist ein Gehalt von monatlich über 10.000 Euro in der Geschäftsführung sehr üblich.

Rund 400 Menschen bietet die Werkstatt der Lebenshilfe Bremerhaven eine Beschäftigung

Der Geschäftsführer versicherte der taz, dass sein Gehalt allein über die Kostensätze und keineswegs über die Arbeitsleistung der Menschen mit Behinderung erwirtschaftet wird. Ohnehin: Seine Bezüge lassen sich betrachten, weil die Elbe-Werkstätten als GmbH – und überwiegend in der Hand der Stadt Hamburg – ihren Jahresabschluss transparent veröffentlicht. Andere große Werkstätten sind Vereine und legen ihre Bilanzen nicht so offen. Dennoch verdeutlicht das Hamburger Beispiel die große Spanne in der Bezahlung derjenigen, die in einer Werkstatt arbeiten.

Das Arbeitsentgelt in Bremerhaven beträgt für die Beschäftigen mit Behinderung innerhalb der Werkstatt zwischen 180 und 250 Euro. Auch der Bremerhavener Betriebsleiter Rietzke kennt die Diskussion um bessere Bezahlung. Man sei darum bemüht. „Aber die Gesetzeslage ist kompliziert. Den Ertrag, um einen Mindestlohn zu zahlen, kann die Werkstatt nicht allein erwirtschaften, das muss im Gesamtpaket geregelt werden“, sagt er. Man hänge an den Aufträgen und da werde knallhart verhandelt – teilweise um Centbeträge. „Wenn wir pro Artikel mehr Geld verlangen, geht der Auftraggeber zu einer anderen Werkstatt – oder im Zweifel in eine JVA.“

Die taz hat alle in diesem Bericht genannten Firmen, die Aufträge an Werkstätten für Menschen mit Behinderung vergeben, gefragt, ob die Menschen nicht auch direkt bei ihnen angestellt sein könnten. Wescom erklärte, dafür mangele es an einem Betreuungskonzept. Ähnlich antwortete Fritz-Kola und verwies unter anderem auf Pflegetätigkeiten, Ergo- und Physiotherapie in den Werkstätten. Schleich und Puky antworteten bis Redaktionsschluss nicht.

Mercedes Benz und die Drogeriekette dm gaben auf diese Frage keine konkrete Antwort; dm erklärte aber, dass in Deutschland rund 4 Prozent der mehr als 42.000 Mitarbeitenden eine Behinderung hätten, bei der Mercedes Benz Group sind es mit 6.700 von 115.000 fast 6 Prozent. Bei Fritz-Kola arbeitet derzeit kein einziger Mensch mit Behinderung. Und die Firma, die mit 10 von 98 die höchste Quote an festangestellten MitarbeiterInnen mit Behinderung angab? Wescom in Bremerhaven.