Energie aus Kanada

Bundeskanzler Scholz und Wirtschaftsminister Habeck wollen die Wirtschaftsbeziehungen zu Kanada stärken. Sie hoffen auf einen Lieferanten für Wasserstoff und Ammoniak

Vor dem Schifftransport von Wasserstoff stehen technologische Fragezeichen

Von Jörg Michel, Calgary

Das kanadische Städtchen Stephenville auf der Insel Neufundland ist ein unscheinbarer Ort. Viele der knapp 7.000 Einwohner leben von Fischfang, dem kleinen Hafen oder der Forstwirtschaft. Früher gab es mal eine Papierfabrik, und das US-Militär unterhielt einen Luftwaffenstützpunkt. Doch die fetten Zeiten sind längst vorbei, und so setzt man in Stephenville neuerdings große Hoffnungen auf Deutschland.

Am Sonntagnachmittag ist Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu einem dreitägigen Antrittsbesuch nach Kanada aufgebrochen. Begleiten lässt er sich von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und von einer Delegation deutscher Wirtschaftsvertreter. Nach Stationen in den Großstädten Montréal und Toronto legen sie auch in Stephenville einen Stopp ein. Auf der Suche nach neuen Energiequellen setzt die Bundesregierung neuerdings auf das rohstoffreiche Land in Nordamerika – und der kleine Ort an der Westküste der Insel Neufundland könnte dabei langfristig eine Schlüsselrolle spielen.

Unter Beisein von Kanadas Premierminister Justin Trudeau will der Kanzler am Dienstag in Stephenville eine Fachmesse für Wasserstoff besuchen und ein Absichtsabkommen zur Lieferung des sauberen Rohstoffs unterzeichnen. Der Ort ist die perfekte Kulisse, denn wenn alles klappt, könnte dort in den nächsten Jahren eine der weltweit modernsten Anlagen zur Gewinnung von grünem Wasserstoff entstehen.

Das kanadische Konsortium World Energy GH2 hat im Juni bei der Regierung Pläne für einen riesigen Windpark eingereicht, mit dessen Hilfe es in der Region sauberen Wasserstoff und Ammoniak produzieren will. Der Bürgermeister von Stephenville, Tom Rose, sieht seine kleine Gemeinde bereits überschwänglich als ein neues „Drehkreuz für grüne Energien in Nordamerika“.

In einer ersten Phase sollen dazu auf einer nahen Halbinsel 164 Windkraftanlagen entstehen, zwei weitere Phasen sollen später folgen. Der so generierte Strom soll dann in einer Anlage im Tiefseehafen von Stephenville bei der Herstellung von Wasserstoff und Ammoniak verwertet werden. Mit riesigen Tankschiffen könnten die Energieträger dann in verflüssigter Form unter anderem nach Europa befördert werden. In näherer Zukunft kommt das wohl vor allem für Ammoniak infrage, der deutlich unkomplizierter zu verflüssigen ist. Statt minus 253 Grad wie bei Wasserstoff sind dafür „nur“ minus 33 Grad nötig. Vor dem Schifftransport von Wasserstoff stehen noch viele technologische Fragezeichen.

Die geplante 12-Milliarden-Dollar-Anlage ist nicht das einzige Projekt dieser Art in Kanada. In Québec baut Thyssenkrupp gerade eine Wasserkraftanlage, die ab 2024 elf Millionen Tonnen grünen Wasserstoff produzieren soll. Kanada gilt als einer der Vorreiter der Technologie und hat sich vorgenommen, zum drittgrößten Wasserstoffproduzenten weltweit aufzusteigen. Bis 2050 will das Land klimaneutral werden.

Allerdings: Eine schnelle Lösung der europäischen Energieprobleme versprechen die Projekte nicht. Bis im Hafen von Stephenville die ersten Tanker ablegen, dürften noch etliche Jahre vergehen. Selbst ein Scheitern ist nicht ausgeschlossen. Neben den offenen technologischen Fragen gibt es noch zahlreiche bürokratische, kulturelle und ökologische Hürden zu überwinden.

Experten warnen, dass für einen großvolumigen Export von Wasserstoff noch viel getan werden muss – es fehlt an geeigneten Hafenanlagen, Schiffen, Terminals. Am Rande des G7-Gipfels in Bayern im Juni sprach Premier Trudeau von einer „mittelfristigen“ Erweiterung bestehender Anlagen. Das betrifft auch einen möglichen Export von Flüssiggas, für den die Bundesregierung ebenfalls Kanada im Auge hat.

Beim Besuch des Kanzlers soll das Thema Flüssiggas nach offiziellen Angaben trotz Energiekrise nicht im Vordergrund stehen. Dafür gibt es handfeste Gründe: Noch gibt es an der Ostküste Kanadas keine exporttauglichen Verladeterminals, die für einen Gastransport nach Europa geeignet wären. Das Interesse der Investoren an einem schnellen Ausbau hält sich in Grenzen. Schließlich will auch die Europäische Union bis 2050 klimaneutral werden und muss sich demnach von fossilen Energieträgern wie Gas verabschieden.