Kapitän ohne Schiff

Der Kapitän Kai Kaltegärtner kann nur noch in seiner Freizeit aufs Wasser ‒weil er Menschenleben im Mittelmeer rettete. Kaltegärtner will nun vor Gericht gehen

Wird von einer der ­wichtigsten Agenturen nicht mehr vermittelt: Kai ­Kaltegärtner Foto: Julia Baier

Von Christian Jakob

Sie retten Leben – und kriegen dafür Schwierigkeiten: Repression gegen See­not­ret­te­r:in­nen ist seit einigen Jahren keine Seltenheit mehr. Schiffe werden an die Kette gelegt, freiwillige Hel­fe­r:in­nen finden sich vor Gericht wieder, wie die Crew des deutschen Rettungsschiffes „Iuventa“ seit Mai im sizilianischen Trapani. Auch die deutsche Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete wurde 2019 nach dem Einlaufen in einen italienischen Hafen zunächst festgenommen.

Der Fall des jungen deutschen Kapitäns Kai Kaltegärtner aus Berlin reiht sich hier ein – und ist doch ein Novum: Er wird nach einem Einsatz für die NGOs Jugend Rettet und Sea Watch an seiner Berufsausübung gehindert. Eine der wichtigsten Agenturen für Schiffskapitäne lehnte es ab, ihn weiter zu vermitteln – wegen seines Engagements. Vor Gericht geht er nun gegen diese Diskriminierung vor. „Es ist mir nicht bekannt, dass es schon mal einen ähnlichen Fall gab“, sagt er.

Kaltegärtner, 33, der heute als Sachbearbeiter für eine grüne Abgeordnete arbeitet, hat 2012 in Cuxhaven sein Kapitänspatent gemacht. Er arbeitet immer wieder zeitweise auf so genannten Offshore-Schiffen, das sind Versorgungsschiffe für Offshore-Windparks.

Als 2016 die NGO Jugend Rettet das Schiff „Iuventa“ für Seenotrettungseinsätze im Mittelmeer anschafft, schließt er sich der neugegründeten Gruppe an. Bei drei Missionen der „Iuventa“ in den Jahren 2016 bis 2018 ist Kaltegärtner an Bord und steuert die „Iuventa“ durchs Mittelmeer. Später arbeitet er für die NGO Sea Watch, kümmert sich dort auch um die technische Einsatzfähigkeit der Schiffe und bildet Crewmitglieder aus.

Kaltegärtner beginnt ein Studium, in den Semesterferien heuert er als Kapitän auf kommerziellen Schiffen an. Der Heuertarifvertrag ermöglicht monatliche Verdienste von bis zu 5.000 Euro.

2019 bewirbt er sich über die in Groningen ansässige Zeitarbeitsfirma Total Crew BV. Die ist auf die internationale Vermittlung von Schiffsbesatzungen spezialisiert. Sie erfasst Kaltegärtners Lebenslauf, in dem steht, dass er zuvor auf Seenotrettungsschiffen im Einsatz war, in ihrer Datenbank. „Sie haben mir nie gefeedbacked, dass das ein Problem war“, sagt Kaltegärtner. Total Crew BV bietet ihm mehrere befristete Stellen an. Vom 12. August 2019 bis 23. September 2019 geht er in Italien als Chief Mate auf einen so genannten Kabelleger, der Stromkabel im Mittelmeer verlegt.

Ein Jahr später, am 4. August 2020, schickt Kaltegärtner seinen aktualisierten Lebenslauf an Total Crew. Doch nun bekommt er postwendend eine Ablehnung. Nur zwei Tage später erhält er eine Mail von Total Crew. „Wir können Sie nicht wieder einstellen“, steht darin. Darunter ist – kommentarlos – ein Link zu einem drei Jahre alten Artikel der italienischen Zeitung Venezia Today. In dem Artikel geht es um eine Protestaktion in Venedig, die italienische Ak­ti­vis­t:in­nen damals aus Solidarität mit Jugend Rettet organisiert hatten. Kaltegärtner wird darin zitiert.

Die Protestaktion wolle die Entscheidung des Europäischen Rates „anprangern“, die „libysche Küstenwache zu unterstützen“ heißt es darin. Zu befürchten seien „willkürliche Festnahmen, Misshandlungen und erzwungene Zurückweisung in die Herkunftsländer“. Die Kooperation mit Libyen „berücksichtigt nicht die dramatischen Gefahren, denen Migranten auf libyschem Territorium ausgesetzt sind, und die unmenschliche Lage der Menschen, die im Auffanglager festgehalten werden“. Das sind die Sätze, die einem Klienten von Total Crew offenbar missfielen.

Kaltegärtner ruft die Agentur an, fragt, warum der Artikel plötzlich ein Problem sei. Die Antwort: Ein Klient, also ein Reeder, habe ihnen den Link geschickt – und Kaltegärtner abgelehnt. Das Risiko weiterer Ablehnungen wolle man nicht eingehen und nehme Kaltegärtner deshalb aus der Vermittlung. Eine Anfrage der taz zu dem Vorgang lässt Total Crew unbeantwortet.

Ich war „erst mal geschockt“, sagt Kaltegärtner. Er fürchtete, dauerhaft nicht mehr vermittelt zu werden. Denn die Situation ist nicht leicht. Die Vermittlungsagenturen haben große Macht auf dem Arbeitsmarkt. Gleichzeitig sind sie private Unternehmen und damit frei in der Ausübung ihrer Dienstleistung. Einen Anspruch auf Vermittlung gibt es nicht. „Es gibt schwarze Listen von Seeleuten“, sagt Kaltegärtner, die unter solchen Agenturen kursierten. Wer darauf steht, warum auch immer, wird nicht vermittelt.

In jenen Semesterferien schaute sich Kaltegärtner anderweitig nach einem Job um – doch fand nichts mehr. Ihm geht es aber nicht in erster Linie um die entgangenen Einnahmen. Er will Total Crews Vorgehen aus politischen Gründen nicht einfach so stehenlassen. „Ich finde es wichtig, das öffentlich zu machen“, sagt er. Er wendet sich an die Gewerkschaften Verdi und Nautilus. Er sucht einen Anwalt, der in dem Vorgang Anhaltspunkte für Diskriminierung wegen „weltanschaulicher Überzeugung“ sieht. Damit wäre die Ablehnung von Kaltegärtner durch Total Crew ein Verstoß gegen das niederländische Antidiskriminierungsrecht, und gegen die Gleichbehandlungsrichtlinien der EU.

Im November 2020 versuchen seine Anwälte, eine außergerichtliche Einigung mit Total Crew zu erreichen. Doch die bestreitet, dass Kaltegärtner diskriminiert worden sei.

Ein Reeder habe Kaltegärtner abgelehnt. Weitere Ablehnungen wolle man nicht riskieren

Ende 2021 reichte er Klage beim niederländischen Menschenrechtsausschuss (College voor de Rechten van de Mens) ein, der auf Diskriminierungsfälle spezialisiert ist. Er bittet Total Crew um eine Stellungnahme, die aber ausbleibt.

Ende Juni urteilt der Ausschuss, dass Kaltegärtner aufgrund seiner politischen Meinung diskriminiert worden sei. Total Crew habe das Gegenteil nicht darlegen können. Das Problem: Das Menschenrechtskomitee spricht nur Empfehlungen aus – rechtlich verbindlich sind seine Entscheidungen nicht.

Kaltegärtner will nun vor einem regulären Gericht gegen Total Crew vorgehen. Er sieht in deren Vorgehen eine „klare Form der Unterdrückung des zivilen Aktivismus zugunsten von Menschen, die Sicherheit und Asyl suchen.“ Die Erfolgsaussichten sind unklar. Es ist schwierig zu beziffern, welcher wirtschaftliche Schaden Kaltegärtner entstanden ist. Unabhängig davon hätte er aber gern ein verbindliches rechtliches Urteil.

Die Kosten für das Verfahren am Schiedsgericht hat der Rechtshilfefonds von Sea Watch übernommen – auch mit Spenden, die nach dem Verfahren gegen Carola Rackete eingegangen sind. Der nun folgende erste formelle Prozess würde 20.000 bis 30.000 Euro kosten.

Vielleicht bezahlt dies seine Rechtsschutzversicherung, vielleicht auch nicht.