„Wir werden esüberleben“

Chelsea Manning informierte über Kriegsverbrechen der USA im Irak und in Afghanistan und saß dafür jahrelang im Gefängnis. An eine bessere Welt glaubt sie weiterhin

Chelsea Manning beim Gespräch mit der taz in Hamburg Foto: Heinrich Holtgreve

Interview Aron Boks
und Konrad Litschko

wochentaz: Frau Manning, Sie haben ein schillerndes Image: Die Whistleblowerin, die trans Frau, die Verräterin, die Heldin. Sind sie eine Heldin?

Chelsea Manning: Ich sehe mich nicht als Heldin. Diese Bilder stammen aus einem sehr engen Ausschnitt meines Lebens. Ich habe ein Statement abgegeben mit den Dateien, die ich bei Wikileaks hochgeladen habe. Ich habe meine Aussagen vor dem Militärgericht gemacht. Ich habe im Gefängnis gekämpft, um zu überleben. Aber das ist vorbei.

Sie haben gut eine halbe Million Seiten aus Geheimpapieren des US-Militärs an Wikileaks weitergegeben – und die Verbrechen von amerikanischen Soldaten im Irak und Afghanistan offengelegt.

Für mich ist das die Geschichte meiner Jugend. Deshalb habe ich jetzt ein Buch geschrieben, um meine ganze Geschichte zu erzählen. Eine Coming-of-Age Story: Über das Überleben und die Suche danach, wer ich bin. Als ich 2017 aus dem Gefängnis kam, war das der Beginn eines neuen Lebens. Heute mache ich Erwachsenendinge. Ich wusste nicht, wie man Kreditkarten benutzt. Ich habe zum ersten mal Miete für eine Wohnung bezahlt. Ich muss Steuern zahlen – was vorher das Militär für mich übernommen hat. Ich lerne, mich durch viele neue Herausforderungen zu navigieren.

Stört es Sie, dass so viel auf Ihre Person projiziert wird?

Nein, aber die Leute machen es sich zu einfach. Es wurde gesagt, ich sei eine sozial isolierte Einzelgängerin. Völlig absurd, denn ich war extrem extrovertiert und sozial. Ich war ein Party Animal. Aber dahinter steckt auch eine Strategie der Regierung: Man stellt Enthüller als abgedreht dar, als “nuts and sluts“.

Sie wurden zu 35 Jahren Haft verurteilt. Von denen saßen Sie sieben ab, bevor Ihnen O-bama die Reststrafe erließ. Sieben Jahre, in denen Sie Ihre Motive nicht offenlegen konnten. Wie hart war das?

Ich habe mich doch erklärt. Meine Erklärung lag in der “readme“-Datei, die ich bei Wikileaks hochgeladen habe. Diese Botschaft war sehr klar, und ich glaube, das haben auch alle gesehen. Er wurde von vielen nur absichtlich ignoriert.

Folter durch US-Soldaten, Angriffe auf irakische Zivilisten und Journalisten…

Das waren Dinge, die ich als Militäranalystin im Irak gesehen habe und die ich nicht mit dem öffentlichen Bild in den USA in Einklang bringen konnte. Ich dachte immer, dass es als gute Absicht gilt, wenn ein Bürger der Öffentlichkeit zeigt, was wirklich passiert. Ich weiß nicht, wann uns das verloren ging.

Es war klar, dass das nicht erlaubt war: Es war Ihr Job, mit Geheiminformationen zu arbeiten, aber nicht diese nach draußen zu geben.

Meine Aufgabe war, Geheimdienstinformationen, Quellen und Methoden für künftige Operationen zu schützen. Nun aber sah ich all die Toten und hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen. Das war historisches Material, das veröffentlicht werden musste.

In Kuwait waren Sie über Wochen in einen Stahlkäfig gesperrt, später saßen Sie in Isolationshaft. Wie haben Sie das durchstanden?

Ich war darauf nicht vorbereitet. Am Anfang wusste ich ja nicht mal, warum ich überhaupt verhaftet wurde. Ich konnte mir das natürlich zusammenreimen, aber mir wurden keine Vorwürfe genannt. Ich hatte keinen Zugang zu einem Anwalt. Ich wusste nicht, ob meine Familie oder irgendjemand sonst wusste, dass ich eingesperrt war. Damals dachte ich, sie könnten mich in ein Loch werfen, ohne jeden Prozess. Da ging es für mich nur ums Überleben. Die Strategie war: Wie komme ich durch die nächsten sechs Stunden? Wie komme ich bis zum Mittag? Zum Abendbrot? Ich brach das runter in kleine Einheiten.

Würden Sie heute sagen, Sie waren naiv?

Mir war schon klar, dass ich Ärger bekommen würde. Es gab zwei große Fälle vor mir. Daniel Ellsberg, der die Pentagon-Papiere über den Vietnamkrieg veröffentlichte – er wurde verurteilt, aber er musste nicht ins Gefängnis, konnte Interviews geben und Reden halten. Und Thomas Drake, der das NSA-Überwachungsprogramm offenlegte – auch er musste nicht in Haft. So hatte ich das auch erwartet. Woher sollte ich wissen, dass es diesmal anders läuft?

Haben Sie das Leaking bereut?

Ich hatte keine Chance, darüber nachzudenken. Die Entscheidung fiel innerhalb kurzer Zeit und unter widrigsten logistischen Umständen. Am Ende war vieles Zufall. Es hätte auch ganz anders kommen und gar nicht klappen können. Dann wäre ich heute eine andere Person. Aber darüber denke ich nicht nach.

Heute ist es selbstverständlich, auch aus Kriegsgebieten eine Vielzahl an Informationen zu erhalten.

Die Lage hat sich komplett geändert. Es geht nicht mehr darum, ob Informationen an die Öffentlichkeit gelangen, sondern darum, zwischen richtigen und falschen zu unterscheiden. Heute werden die Menschen mit Informationen überhäuft. Damals konnten Regierung, Militär und Großunternehmen noch Informationen kontrollieren. Heute können sie das vielleicht noch zwei Jahre.


Braucht es noch Whistleblower wie Sie?

Ich benutze diesen Begriff nicht, er klingt so nach 20. Jahrhundert, nach einem Polizisten mit Trillerpfeife. Aber bin ich weiterhin eine Verfechterin der Transparenz.

Welchen Aktivismus betreiben Sie heute?

Es gibt viele Dinge, in die ich mich einmische. Die Rolle der Geheimdienste, aber auch die der Polizei in den USA, ihre Gewalt und Brutalität. Wie das Militär verfolgt auch die Polizei eine Taktik der Dehumanisierung, sie tritt auf wie eine inländische Besatzungsmacht.

Schon in Ihrer Kindheit war Ihnen klar, dass Sie sich trans fühlen. Aber es war ein langes Ringen: Erst in Haft führten Sie Ihre Transition durch.

Ich versuchte das zu unterdrücken, aber es kam wieder zurück. Bis in meine frühen Zwanziger war ich war eine trans Person, ohne zu wissen, dass es eine Community gibt, die sich unterstützt, informiert und vernetzt.

Sie wirken so verständnisvoll mit den Menschen um Sie herum. Sie glauben, dass Informationen eine bessere Gesellschaft formen können.

Das ist mein Job.

Sind Sie Idealistin?

Eher realistische Optimistin.

Nach all dem, was Ihnen widerfahren ist? Angesichts dessen, dass Trump an die Macht zurückkehren könnte, es wieder tödliche Schüsse auf queere Be­su­che­r*in­nen einer Bar gab?

Ich weiß, dass es Dinge gibt, die nicht gut laufen auf dieser Welt. Ich sehe, dass eine reaktionäre Bewegung in den USA die Entwicklung zurückdrehen kann, insbesondere wenn es um trans Rechte geht. Das zeigen schon ihre Erfolge bei der Einschränkung von Abtreibungsrechten. Was mich dennoch optimistisch macht, ist der Fakt, dass die queere und trans Community, ja die ganze Menschheit, es bisher geschafft hat, auch die furchtbarsten Zustände durchzustehen und daraus gestärkt hervorzugehen. Das erwarte ich auch jetzt, bei der Klima-krise, beim Aufstieg reaktionärer und rechtsextremer Politik, beim Umgang mit Massenmi-gration aus dem globalen Süden und den rückschrittlichen Reaktionen darauf oder bei der Desinformation über Social Media. Ja, es werden harte Zeiten. Aber ich glaube, wir werden das überleben. Wir werden etwas Neues und Besseres aufbauen. Auch wenn das noch eine Weile dauern kann.

Chelsea Manning

34 Jahre alt, aufgewachsen in Oklahoma. 2010 war sie als Analystin für die US-Armee im Irak und übermittelte hunderttausende Geheimdokumente über den Irak- und Afghanistankrieg an Wikileaks. Manning erhielt dafür eine 35-jährige Haftstrafe, von der sie 7 Jahre absaß – bis US-Präsident Obama sie begnadigte. In der Haft begann Manning eine Geschlechtsangleichung. 2019 ging sie ein Jahr in Beugehaft, weil sie eine Aussage im Ermittlungsverfahren gegen Julian Assange verweigerte. Heute lebt sie in New York und arbeitet als Sicherheitsberaterin und IT-Expertin. Gerade sind ihre Memoiren unter dem Titel „Readme.txt“ bei Harper Collins erschienen.

Worauf gründet Ihr Optimismus?

Wir haben in der Geschichte schon solche Zyklen durchlaufen. Nelson Mandela saß in Südafrika fast 30 Jahre in Haft, es sah so aus, als würde die Apartheid nie verschwinden. Martin Luther King sagte: Der Bogen des moralischen Universums ist lang, aber er neigt sich der Gerechtigkeit zu. Ich glaube aber nicht, dass der Bogen sich einfach von allein neigt. Es braucht konstanten Druck dafür.

Wie kommt man als queere Person auf die Idee, zum Militär zu gehen?

Das US-Militärsystem nimmt vor allem Freiwillige auf, die am Abgrund stehen. In so einer Lage war ich auch: Eine 22-jährige Person, die keine Idee hat, in welche Richtung ihr Leben gehen soll. Ich wollte Physik studieren, musste aber bei Starbucks arbeiten und war eine Zeit lang obdachlos.

Im Militär galt damals: Wer nicht heterosexuell ist, darf darüber nicht sprechen.



Ich war dort nicht die einzige queere Person. Ich fühlte mich zugehörig, bis ich im Gefängnis landete.

Ihre Transition begannen sie im Gefängnis, als erste Person in der US-Geschichte. Behörden legten Ihnen Steine in den Weg, Ihre Mitgefangenen waren tolerant. Woran lag das?

Zum einen bin ich eine soziale, freundliche und einnehmende Person. Zum anderen gibt es eine natürliche Solidarität unter den Inhaftierten. Alle schweißt zusammen, dass sie das Gefängnis nicht mögen. Ich saß in Hochsicherheitsgefängnissen, und die gewalttätigsten und gefährlichsten Leute, denen ich dort begegnete, waren die Aufseher. Sie machten, was sie wollen, und es hatte keine Konsequenzen. Es gab auch bei Mitgefangenen Vorurteile, aber generell hieß es: Du gehörst zu uns.

Fühlen Sie sich heute frei?Das kann ich so nicht sagen. Die USA sind ein Pulverfass, an-gsteinflößend, ein labiler Ort. Die Zeit im Gefängnis war stabiler und komfortabler. Über weiten Teilen des Landes liegt ein Schleier von Unsicherheit. Du weißt nie, ob du nächste Woche noch einen Job hast oder eine Krankenversicherung.

Clubs und Partys haben Ihre Jugend ausgemacht, heute legen Sie auch als DJ auf. Wirft Sie das in Ihr altes Leben zurück?

Naja, ich lege ein paar Songs aus dieser Zeit auf. Aber eigentlich schaue ich mehr nach vorne. Im Gefängnis habe ich gelernt, nicht in der Vergangenheit zu schwelgen. Das hat noch nie jemandem geholfen.

Am Donnerstag war Chelsea Manning in der taz zu Gast. Das Gespräch ist auf Youtube zu sehen.