„Mal einflussreich und mächtig“

Gewalt habe oft viel mit prekären Lebensumständen und wenig mit Migration zu tun, so der Sozialpsychologe Andreas Zick zu den Exzessen in der Silvesternacht

Feuerwehrleute im Einsatz zu Silvester. Einige waren selbst Zielscheibe   Foto: Christian Mang

Interview Sabine am Orde

taz: Herr Zick, in der Silvesternacht gab es zahlreiche Übergriffe auf Polizei und Rettungskräfte, die Rede ist von einer neuen Dimension der Gewalt. Sehen Sie das auch so?

Andreas Zick: Die neue Dimension gibt es bislang vor allem aus Sicht von Rettungskräften und der Polizei. Sie haben erlebt, wie zum Teil mit Vehemenz, zum Teil aus Raketenbatterien, feindseliger als zuvor auf sie geschossen wurde. Wir müssen natürlich abwarten, bis alle Fakten vorliegen. Aber neu erscheint mir schon, dass die Provokation und die Angriffe an Silvester so massiv und so gezielt in bestimmten Stadträumen erfolgt sind.

Sie meinen, in sogenannten sozialen Brennpunkten?

Ja, wir haben an Silvester eine Art Straßenkampf erlebt, die wir bisher nicht von Silvester kannten. Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Es war das erste Silvester nach Corona, auch war in diesem Jahr besonders viel Feuerwerk im Spiel. Im Vorfeld war bereits klar, dass zum Beispiel in Berlin-Neukölln geballert werden soll, das hat viele Leute auch aus anderen Stadtteilen dorthin gezogen. Ich würde raten, alle beteiligten Gruppen in den Blick zu nehmen, durchaus auch Touristen. Gewalt­akteure sind dann besonders motiviert, wenn sie Aufmerksamkeit bekommen. Dann spielen Alkohol und andere Drogen natürlich eine Rolle. Oft hat die Gewalt bei solchen Ausbrüchen kein klares Ziel, Leute ziehen durch die Gegend und machen Stress. Diese Gewalt wird, wie Jan Philipp Reemtsma mal gesagt hat, als Erlebnis, als pure Emotion erlebt. Aber Silvester gab es eben auch bei einigen Gruppen das klare Ziel: Die staatliche Ordnung wurde zurückgedrängt, Gruppen markieren einen Raum als ihren. Das steckt dann andere Gruppen an, die meinen, diese Gewalt wäre angesagt und sei ein Erlebnis.

Und was heißt das?

Die Gewaltsituation ist geprägt vom Denken: Das ist unsere Straße, das ist unser Raum. Ein ähnliches Phänomen haben wir bei den Gewaltausbrüchen während Corona in Frankfurt und Stuttgart erlebt, auch auf den Coronaprotesten. Ganz heterogene Gruppen treffen sich, aber auf einmal gibt es diesen Identifikationspunkt: Wir sind hier gemeinsam in unserem Raum und lassen keine Ordnungskräfte zu. In anderen Ländern war das ausgeprägter als in Deutschland, man denke zum Beispiel an die Neighbourhood-Riots in Großbritannien in den 1980er Jahren. An Silvester wird geböllert, es wird eng, ist stressig, dann werden die ersten Raketen auf die Polizei geschossen. Das wird vor Ort als harmlos wahrgenommen. Es braucht eine Gruppe oder Person, die die Norm bricht, eine vermeintlich ‚feindliche Gruppe‘ angreift, dann wird Gewalt zur Norm. Wenn der Impuls dazukommt: „Das ist unser Raum, da haben andere nichts zu suchen“, und Zuschauer nicht eingreifen, sondern sogar applaudieren, dann kann es eskalieren.

Die Polizei taugt für manche zum Feindbild, aber warum werden Feuerwehr und Rettungskräfte angegriffen?

Sie werden nicht als Helfer, sondern als Staatsmacht gesehen und in einen Topf mit der Polizei geworfen. Das Rettungsdienste als Störenfriede erlebt werden, ist übrigens kein neues Phänomen. Das kann man auch bei Großkonzerten erleben, wenn ein Rettungswagen im Blick steht oder wenn auf der Autobahn eine Rettungsgasse gebildet werden soll oder Gaffer weggeschickt werden. Wir diskutieren die unterschiedlichsten Formen der Gewalt gegen Rettungsdienste, Polizei, Ordnungskräfte seit Jahren. Im Übrigen werden ja auch Jour­na­lis­t*in­nen und Kom­mu­nal­po­li­ti­ke­r*in­nen vermehrt angegriffen.

Wie erklären Sie das?

Vorurteilsbasierte Hasstaten haben in der Gesellschaft generell zugenommen und auch die Akzeptanz, mit Aggression und Gewalt Ziele durchzusetzen. Das ist nicht nur rein rechtsextrem oder rechtspopulistisch, im Zuge der Coronarproteste haben Angriffe zum Beispiel auf die Polizei zugenommen. Die Berliner Polizei hat entsprechende Zahlen veröffentlicht. Dazu kommt, dass es weniger Zivilcourage gibt, also hilfreiches Verhalten in Gewaltsituationen, sowie neue Formen der Gewaltkommunikation und -verherrlichung. In Neukölln gab es ja zum Beispiel viele, die mit dem Handy fotografiert und gefilmt haben, die diesen Kampf mit der Polizei ganz belustigend fanden. Die gehören auch zum Gewaltszenario und müssen für eine umfassende Analyse mitgedacht werden.

Zu denen, die selbst gewalttätig waren: Woher kommt diese enorme Gewaltbereitschaft?

Nach allem, was wir bislang wissen, gibt es unterschiedliche Gruppen. Es gab Vermummte, die wahrscheinlich Silvester als Gelegenheit gesehen haben, den Kiez mit Feuerwerk aufzumischen. Dann gibt es die in Partylaune, sie haben Feuerwerk dabei, aber was auf den Plätzen stattfindet, reicht ihnen nicht. Sie lassen sich vielleicht anstecken. Da muss nur einer was zünden und dann sehen wir diese Kettenreaktion. Dann gab es Gruppen, die aus den Kiezen kommen, mit und ohne Migrationsgeschichte, aber mit einer gemeinsamen Identifikation als Gruppe. Wenn das Ganze dann noch gefilmt wird, haben wir auch eine Inszenierung dieser Gewalt. Das motiviert solche Gruppen zusätzlich.

Das ist noch keine Antwort auf die Frage, woher die Gewaltbereitschaft kommt. Wer sind die Täter? Es werden ja Kriterien wie jung, männlich, alkoholisiert genannt, dazu: wenig Bildung und oft aus Familien mit Migrationsgeschichte.

Aktion: Nach den Silvesterkrawallen sind nach Angaben der Berliner Polizei bisher 281 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Darunter 47 wegen gefährlicher Körperverletzung. Die Tatverdächtigen hatten mindestens 18 verschiedene Staatsangehörigkeiten.

Reaktion: Innenministerin Nancy Faeser, SPD hat deutliche Konsequenzen für die Täter gefordert. Sie sieht „ein großes Problem mit bestimmten jungen Männern mit Migrationshintergrund, die unseren Staat verachten, Gewalttaten begehen und mit Bildungs- und Integrationsprogrammen kaum erreicht werden.“

Diese Faktoren stimmen oft, aber man muss sie sich sehr genau anschauen und fragen, was sie bedeuten. Jung und männlich, das stimmt nach Angaben der Polizei und das weiß man auch aus der Forschung, aber es darauf zu reduzieren reicht nicht. Da spielen natürlich auch Rollenklischees eine Rolle: Männer knallen, das ist auch in vielen Familien so. Und natürlich wollen diese jungen Männer auch ihre Männlichkeitsvorstellungen inszenieren, sie genießen es, wenn sie dabei aufgenommen werden. In migrantischen Gruppen kann das wichtiger sein, aber nicht alle haben einen Migrationshintergrund, wir beobachten in der kriminologischen Forschung viel stärker heterogene Gruppen. Häufig geschieht es in Stadtteilen, die abgehängt oder prekär sind. Genau das wird mit Identität aufgeladen. Das hat aber eher wenig mit Migration und viel mehr mit Lebensverhältnissen und daraus entstehenden Identifikationen und Zugehörigkeitsgefühlen zu tun. Wenn die Lebensverhältnisse schlecht sind, dann ist diese Gewalt eine Gelegenheit, mal einflussreich, selbstbewusst und mächtig zu agieren.

In Berlin sind Polizei und Feuerwehr zum Teil vor der Gewalt zurückgewichen. Welche Folgen hat das?

Das ist einerseits natürlich fatal, weil die Erfahrung bleibt, dass man mit Gewalt die Staatsmacht in die Flucht schlagen kann. Deshalb rufen jetzt ja auch alle nach harter wie schneller Strafverfolgung. Aber man muss natürlich auch anschauen, warum Polizei und Rettungsdienste zurückgewichen sind. Sie haben ja nicht nur die Aufgabe, gegen Menschen vorzugehen, die mit Feuerwerk auf andere zielen, sie müssen auch die Situation sichern und jedem helfen und jeden schützen. Die Polizei wird dies aufarbeiten. Die Dienste vor Ort wissen, dass die Strafverfolgung und Aufrüstung mit Technik wie Bodycams nicht reicht, sondern ein umfassendes Gewaltpräventionskonzept hermuss. Wichtig ist, was präventiv geschehen ist. Gab es im Vorfeld szenekundige Ansprachen? Gab es Versuche, den Raum anders zu organisieren? Es könnte aber sein, dass dieses Zurückweichen als Erfolg gewertet und die Silvesternacht künftig als Raumkampf inszeniert wird, wie das früher in Berlin beim 1. Mai der Fall war.

Innerhalb weniger Tage ist aus einer Böllerverbotsdebatte eine über Migration und Integration geworden. Ist das hilfreich?

Foto: imago

Andreas Zick ist Professor für Sozialisation und Konfliktforschung und leitet seit April 2013 das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.

Nein, im Gegenteil, das ist fatal, weil so nichts erklärt wird. Debatten über einfache Zugehörigkeiten und reines Durchgreifen und Bestrafen mögen in der politischen Debatte verständlich sein, aber Konzepte müssen am Ende greifen und Prävention stärken.

Aber es geht offensichtlich auch um Integrations­probleme.

Ja, aber was meint hier Integration und welchen Einfluss hat unter Berücksichtigung aller anderen Einflussfaktoren die Migration? Schauen wir uns also junge Männer, migrantischer Hintergrund, abgehängte Stadtteile an. Das sind gleich drei soziale Kategorien – Herkunft, soziale Lage, Geschlecht –, die wir zur Erklärung heranziehen. Wie hängen die zusammen, wenn wir Gewalteskalationen in Gruppen erklären möchten? Es geht eher um die Lebensverhältnisse und die Räume, an denen sich auch junge migrantische Männer orientieren.

Wenn man sich diese nicht genau anschaut, macht man fatale Erklärungsfehler. Außerdem sind es meist Gruppentaten, und die Gruppen sind eben viel heterogener als die nationale Zugehörigkeit von jetzt festgestellten Täterinnen und Tätern. So wie die Opfer auch heterogen sind. Bei Polizei und Rettungsdiensten arbeiten ja auch Menschen mit Migra­tionshintergrund. In den Stadtteilen, in denen die Gewalt eskaliert, werden jetzt Menschen in Verdächtigungen hineingezogen. Diese voreiligen Diskussionen und einfachen Kausalerkärungen befördern eher die Bildung radikaler migrantischer Identitäten. Da wäre ich sehr vorsichtig.