Nicht mehr als eine Entschuldigung

Ein Jahr nach Veröffentlichung eines Missbrauchsgutachtens ziehen Kardinal Marx und das Erzbistum München Bilanz. Betroffene sexualisierter Gewalt kommen erneut nicht zu Wort

Kardinal Reinhard Marx bei einer Pressekonferenz am Dienstag

17. Januar 2023: Kardinal Marx recht­fertigt sich für seine Aufklärungs­arbeit Foto: Fo­to:­ Theo Klein/imago

Von Linda Gerner

Er sei „erschüttert und beschämt“ – so äußerte sich der Münchner Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, als am 20. Januar 2022 ein Gutachten zu den Missbrauchsfällen in seinem Erzbistum seit 1945 vorgelegt wurde. Ein Jahr später ziehen der Erzbischof und das Bistum Bilanz, wie die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs seit der Veröffentlichung vorangekommen ist. „Wir wissen alle, dieser Prozess geht weiter. Der ist nicht zu Ende“, sagt Marx. „Für uns ist klar: Wir wollen an der Seite von Betroffenen sexualisierter Gewalt stehen.“ Erneut bittet er um Entschuldigung und erneuert seinen Aufruf, dass sich Menschen, die sexuellen Missbrauch im Rahmen der Kirche erfahren haben, melden sollen.

Das Gutachten von 2022 umfasst rund 1.700 Seiten, die beauftragte Anwaltskanzlei listet mindestens 497 Opfer und 235 mutmaßliche Täter auf. Auch dem kürzlich verstorbenen emeritierten Papst Benedikt XVI. wurde im Gutachten vorgeworfen, gegen einen des Missbrauchs beschuldigten Kleriker nichts getan zu haben. Mehrfach hatten die Kir­chen­ver­tre­te­r eine umfassende Aufarbeitung angekündigt. Eine persönliche Konsequenz, wie etwa den Rücktritt von Kardinal Marx, hatte dieser damals mit Verweis auf die Aufarbeitungsarbeit abgelehnt.

Sie hätten den Blick für die Betroffenen nicht wirklich gehabt, gibt Marx am Dienstag zu. „Das war unser größtes Defizit.“ Auch Christoph Klingan, Generalvikar des Erzbischofs, sagt, dass der Kontakt mit den Betroffenen zu kurz gekommen ist. Und trotzdem: Bei der Vorstellung der Aufarbeitungsbilanz kommen keine Ver­tre­te­r*in­nen des Betroffenenbeirats des Erzbistums München und Freising zu Wort. Stattdessen berichten die kirchlichen Mit­ar­bei­te­r*in­nen von einer Anlauf- und Beratungsstelle, die im Sommer 2022 zu einer Stabsstelle „Beratung und Seelsorge für Betroffene von Missbrauch und Gewalt in der Erzdiözese“ ausgebaut wurde. Insgesamt sind dort bislang 316 Anrufe eingegangen, hinzu kommen 57 weitere Meldungen zu sexualisierter Gewalt bei der Stelle für die Prüfung von Verdachtsfällen.

Es habe viele Gespräche mit Betroffenen gegeben, heißt es. „Missbrauch ist und bleibt eine Katastrophe“, betont Marx. Doch die Tä­te­r*in­nen bleiben ein Jahr später unerwähnt. Auch zu einem Verfahren vor dem Landgericht Traunstein halten sich Marx und Co bedeckt. Ein Missbrauchsopfer hatte im Juni 2022 eine Feststellungsklage gegen den inzwischen verstorbenen Ex-Papst Benedikt XVI., gegen den ehemaligen Münchner Erzbischof Kardinal Friedrich Wetter sowie den Ex-Priester H. eingereicht. Am 28. März soll im Verfahren ein erster mündlicher Verhandlungstermin stattfinden. Weiterer Streitpunkt sind Entschädigungszahlungen an Betroffene. Bei diesem Thema will man für mehr Transparenz sorgen.

„Missbrauch ist kein Versehen, sondern eine geplante Tat“

Christine Stermoljan

„Missbrauch ist kein Versehen, sondern immer eine geplante Tat“, sagt Christine Stermoljan, Leiterin der Stabsstelle Prävention im Erzbischöflichen Ordinariat. Es habe Schulungen für alle Mit­ar­bei­te­r*in­nen gegeben sowie kindgerechte Aufklärung in allen Einrichtungen, um für das Thema zu sensibilisieren. Alle müssten Schutzkonzepte zur Verhinderung von sexualisierter Gewalt vorlegen. Im Frühjahr wurde zudem ein neuer Verhaltenskodex zur Prävention von sexualisierter Gewalt erlassen.

Doch tut die Kirche genug? Bereits im Dezember 2022 kritisierte der bayerische Justizministers Georg Eisenreich (CSU) die Arbeit der Kirchen als nicht ausreichend. Im Verfassungsausschuss des Landtags sprach er sich für eine unabhängige Ombudsstelle für Betroffene von Missbrauch in der Kirche aus. Diese Kritik wies Marx entschieden zurück: „Ich wehre mich gegen den Vorwurf: ‚Die Kirche tut nichts, sie kann nichts.‘“ Es sei wünschenswert, dass der Staat aktiv wird gegen sexualisierte Gewalt, aber dann überall, auch in öffentlichen Institutionen.