Gedenken an Hiroshima: In Origamischuhen gegen Atomwaffen

In Hiroshima treffen jährlich 10 Millionen Papierkraniche ein, um der Opfer des Atomangriffs zu gedenken. Die alten landen aber nicht einfach im Müll.

Drei bunte Origami-Kraniche liegen auf zwei offenen Händen

Die Origamis gehen auf eine Legende zurück: Wer 1.000 faltet, hat bei den Göttern einen Wunsch frei Foto: mauritius images

HIROSHIMA taz | In einer Fabrikhalle in Hiroshima warten Berge kleiner bunter Papierkraniche in großen Plastiksäcken auf ihre Aufbereitung. Zwischen den gefalteten Vögeln liegen Zettel mit handgeschriebenen Botschaften wie „Möge der Frieden anhalten“ oder „Nie wieder“. Zuerst entfernen Arbeiter sorgfältig die Schnüre, auf denen die Kraniche sitzen, sortieren Strohblumen und anderen Schmuck aus und lösen das Papier schließlich in einem Kessel mit Heißwasser zu Zellstoff auf. Daraus entsteht ein Spezialpapier für Schreibwaren mit fühlbaren bunten Einsprengseln von den Überbleibseln der Kraniche. „Auf diese Weise recyceln wir nicht nur das Papier der Kraniche, wir verbreiten auch die Friedensgefühle weiter, mit denen sie gefaltet wurden“, erklärt Takeshi Jinba, Chef des Papierherstellers Konogawa.

Das Unternehmen verarbeitet rund ein Drittel der zehn Millionen Papierkraniche, die jedes Jahr aus Japan und aller Welt in Hiroshima eintreffen. Die Stadt hängt die Büschel mit jeweils 1.000 in der Origamitechnik gefalteten Kranichen in die Vitrinen am Kinderdenkmal im Friedenspark der Stadt, der dem Abwurf der ersten Atombombe am 6. August 1945 gewidmet ist. Die ausgestellten Kraniche werden regelmäßig gegen neu angekommene Exem­pla­re ausgetauscht, dann verpackt, etikettiert und bis zur Wiederaufbereitung gelagert.

Von den weit über 50 ­Gedenkstätten im Friedenspark, für Bauarbeiter, Bergleute, Postangestellte und Künstler, ist das Kinderdenkmal nahe der mahnen­den Ruine des sogenannten Atombombendoms vielleicht die bewegendste. Zehn Jahre nach dem Angriff erkrankte die gesunde und sportliche elfjährige Sadako Sasaki an Leukämie, eine direkte Folge der hohen Strahlenbelastung als Kleinkind – die damals Zweijährige befand sich nur 1.600 Meter vom Zentrum der Explosion entfernt.

Als Sadako schon im Krankenhaus lag, erzählte ihr eine Freundin von einer japanischen Legende: Wer 1.000 Papierkraniche faltet, hat bei den Göttern einen Wunsch frei. Das gab dem Mädchen neue Kraft. In der Hoffnung auf Genesung machte Sadako sich an die Arbeit. Schulfreunde und Mitpatienten brachten ihr Papierbögen aus Zeitungen und Verpackungen. Als sie am 25. Oktober 1955 starb, hatte sie über 1.300 Orizuru gefaltet, so heißen gefaltete Kraniche auf Japanisch.

Hiroshima fördert das Erinnern

In tiefer Betroffenheit und Trauer sammelten einige Mitschüler zusammen mit erwachsenen Unterstützern Geld für ein Denkmal für die Kinderopfer der Atombombe, das schon 1958 eingeweiht wurde. Der neun Meter hohe „Turm der tausend Papierkraniche“ besteht aus einem schlanken Dreibein mit der Bronzestatue eines jungen Mädchens, das auf hochgestreckten Händen einen Kranich aus goldglänzenden Metallstangen trägt.

Schulkinder aus ganz Japan besuchen das Denkmal jedes Jahr und bringen Origamikraniche mit. Die US-Autorin Eleanor Coerr verbreitete die traurige Geschichte mit dem Kinderbuchbestseller „Sadako and the Thousand Paper Cranes“ (deutscher Titel: „Sadako“) im Ausland. So wurde das japanische Mädchen zum bekanntesten Opfer der Atombombenabwürfe weltweit – und der gefaltete Papierkranich zum Symbol einer friedlichen Welt ohne Atomwaffen.

Zwei weiße Schuhe mit bunten Zungen

Mit festem Tritt gegen Atomwaffen: die Schuhe bestehen teils aus den recycelten Origamis Foto: Spingle

Die Stadt Hiroshima fördert die Erinnerung an das traurige Schicksal von Sadako. Auf ihrer Website gibt sie auch auf Englisch genaue Hinweise zum japanischen Brauch des Senbazuru, der tausend Kraniche. Jedes Tausenderbündel sollte nicht mehr als 25 Zentimeter breit und höchstens 1,50 Meter lang sein und einen Papierstreifen mit einer persönlichen Widmung enthalten.

Wer sein Bündel mit der Post schickt, erhält per Mail ein Foto davon, wie es in einer der Vitrinen am Kinderdenkmal hängt. Über eine Grußkarte zum Herunterladen können sich die Absender mit Namen, Nationalität und ihrer Friedensbotschaft in eine Gedenkdatenbank eintragen lassen.

Diese Angebote sind ein wichtiger Pfeiler von Hiroshimas Streben, der Atombombe zu gedenken, den Krieg zu ächten und zum Frieden zu erziehen. Dafür richtete die Stadt sogar eine eigene Behörde für Friedensförderung ein. Angesichts der historischen Mission kam es für Hiroshima nie infrage, die Kraniche einfach wegzuwerfen.

Einige werden für Gedenkaktivitäten in Schulen und an Jahrestagen verwendet. Aber im Laufe der Zeit sammelten sich doch weit über 100 Tonnen davon an. Schließlich fragte die Stadt 2011 ihre Bürger um Rat, wie sich die Gefühle und Gedanken der individuellen Kranichfalter aus der ganzen Welt am besten erhalten und verbreiten ließen. Die Mehrheit war dafür, die riesigen Kranichmengen mit dem Ziel der Friedensförderung zu recyceln.

Schuhe aus Papier

Für dieses Projekt verwendet die Stadt den psychologischen Ausdruck Sublimierung. „Wir wollen die individuellen Gebete für den Frieden auf eine höhere Ebene heben“, formuliert ein Beamter philosophisch. Die Stadt bietet die eingelagerten Kraniche Gruppen und Unternehmen zur Nutzung an, die zum Gedanken der Sublimierung passt. Eine Verarbeitung etwa zu Papierhandtüchern oder Klopapier käme also nicht infrage, während das Ökopapier des Herstellers Konogawa dem Konzept gut entspricht.

Als Russlands Präsident Wladimir Putin der Ukraine mit dem Einsatz von Atomwaffen drohte und seine Soldaten ein Atomkraftwerk besetzten, reagierte der Hersteller Camino mit einem schnell entworfenen blau-gelben Fächer aus dem Papier mit Kranich­anteil. Darauf stand die englische Aufschrift „Die Welt wird bald eins sein – Frieden“.

Auf einem ähnlichen Konzept wie das Recyclingpapier basiert ein Viskosegarn mit einem kleinen Fadenanteil aus dem Zellstoff der gefalteten Kraniche. Aus dem Garn entstehen Handtücher, Halstücher und T-Shirts.

Vor einem Jahr brachte die Manufaktur Spingle aus der Stadt Fuchu bei ­Hiroshima einen Sneaker auf Basis dieses Materials auf den Markt. Eine Partnerfirma verwebt das Garn zu einem festen Segeltuch für den Schaft der Turnschuhe. Ein Foto der bunten Papierkraniche schmückt die Schuhzunge unter dem Schnürsenkel. Die Farbe Blau der Einlegesohle soll Frieden symbolisieren. Zu jedem Paar Schuhe erhält der Käufer fünf Bögen wiederaufbereitetes Origamipapier aus Altkranichen.

Bei G7 gegen Atomwaffen

„Wir möchten, dass die Menschen diese Sneaker täglich tragen und dabei an den Frieden denken“, erzählt Vertriebschef Naoki Kunihara, der selbst die ursprüngliche Idee für dieses Design hatte. Die Bewohner von Hiroshima würden sich schon von Kindergartenzeiten an viel mit Krieg und Frieden auseinandersetzen. „Ich habe lange darüber nachgedacht, mit welchem Produkt sich dieses starke Friedensgefühl am besten ausdrücken lässt“, erzählt Kunihara. Da seien ihm die Kraniche eingefallen. Es dauerte länger als ein Jahr, um eine Methode für die Garnverarbeitung so zu entwickeln, dass sich daraus Schuhe machen ließen. Immerhin 12 Prozent des Obermaterials bestehen nun aus dem Zellstoff von recycelten Kranichen.

Das Modell mit der Nummer SPM-1005 zum Preis von umgerechnet 140 Euro wird derzeit im Vorfeld des G7-Gipfels vom 19. bis 21. Mai in Hiroshima stark nachgefragt. Der Bürgerrat für den Gipfel hat die Friedensschuhe als offizielles Produkt für das G7-Treffen zertifiziert.

Japans Regierungschef Fumio Kishida, der Gastgeber für die G7-Chefs, wuchs in Hiroshima auf, hat dort seinen Wahlkreis und setzt sich für eine atomwaffenfreie Welt ein. Ungeachtet seiner pazifistischen Grundhaltung machte er Karriere in der konservativen Liberaldemokratischen Partei.

Kishida möchte den Gipfel auch dazu nutzen, dass die G7-Staaten sich gegen Atomwaffen aussprechen, obwohl drei der sieben Staaten selbst nuklear bewaffnet sind.

Auch zu einem symbolischen Gedenkmoment für Sadako könnte es kommen: Ihr noch lebender Neffe Yuji Sasaki wirbt seit Monaten bei amtlichen Stellen dafür, dass jeder der sieben Regierungschefs einen kleinen Kranich aus Metall geschenkt bekommt – das filigrane Objekt ist eine exakte Kopie des letzten Kranichs, den Sadako vor ihrem Tod faltete.

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