Menschenrechtsverletzungen der EU: Längst in der Dystopie

In der Asylpolitik wird der Anstand leise abgebaut. Grundrechtsverletzung darf niemals überhaupt zur Abstimmung vorliegen.

Eine Hand an einem Zaun

Idomeni, Griechenland: Ein Geflüchteter versucht den Zaun an einem Notlager zu öffnen (Archivaufnahme) Foto: Marko Djuric/reuters

Ich, politisch informiert, oft interessiert, zunehmend resigniert, klappe meinen Laptop auf und suche im Internet nach der Definition von Menschenrechten. Peinlich, denke ich, als die Suchmaschine 28,6 Millionen Ergebnisse ausspuckt, dass ich das überhaupt nachgucken muss. Ständig sagt man das so, Grund- und Menschenrechte, gerade sage auch ich das wieder sehr oft, zu meinem Freund, zu meinen Freund*innen, zu mir selbst. „Grund- und Menschenrechte sind nicht verhandelbar“, sage ich wie ein Automat, als würde dieser Satz durch das Aussprechen unverletzlich, als würde ethische Politik so verbindlich. Dabei weiß ich doch, dass nichts folgen muss, wenn es nicht gewollt ist. Oder weniger gewollt als „der Kompromiss“. Kompromiss ist ja das europäische Ziel der Gegenwart, nicht die Behandlung tödlicher Haltungsschäden.

Politik ist nicht einfach und sie wird sicher nicht immer leichtfertig gemacht. Manchen Po­li­ti­ke­r*in­nen glaube ich sogar, wenn sie sagen, dass es sie schmerzt, wie sie Europas Grenzregime mit verhandelt haben. Ich verstehe nur nicht, warum sie es dann tun. Kompromisse sind demokratisch notwendig. Wenn der eine was will und die andere nicht, trifft man sich irgendwo dazwischen und behauptet einen Erfolg. Aber manchmal gibt es kein Dazwischen. Manches ist kein Spektrum, es kann nur sein oder eben nicht. Daran müssten De­mo­kra­t*in­nen ihr Handeln ausrichten, unabhängig von der Parteizugehörigkeit.

Ich soll keine Dystopie herbeischreiben. Als wären wir nicht mittendrin. Ich und du und wir in unserer ganz realen Festung, zwar teurer, enger, heißer als früher, aber immerhin lebt es sich doch insgesamt noch ganz nett. Längst nicht mehr nach uns, sondern um uns die Sintflut. Und wenn wir ehrlich sind: In uns auch.

Anstand wird abgebaut

Sicher Geglaubtes kann abhandenkommen. Socken in der Waschmaschine, verliehene Romane, Reiselust, Liebe. Auch Anstand ist davon nicht ausgenommen, Anstand wird abgebaut wie eine endliche Ressource, leise, kollektiv legitimiert. Deswegen gibt es doch Gesetze. Deswegen steht es doch da, eins von 28,6 Millionen Ergebnissen: Menschenrechte sind unveräußerlich, unteilbar und unverzichtbar. Sie stehen allen Menschen zu, unabhängig davon, wo sie leben und unabhängig davon, wie sie leben. Und doch wird in dieser Dystopie veräußert bis über die Ränder, geteilt, bis Familien zerfallen, verzichtet, bis Schiffe sinken. Sehr abhängig davon, wo ein Mensch lebt und wie, wie viele Ressourcen er hat, woher er gekommen ist, wohin er will. In der Dystopie steht der Kompromiss über den Menschenrechten, verhandeln wir das Unverhandelbare.

Wo ist die Instanz, die zu solchem humanitären Versagen verbindlich Veto sagt? Die den Kompromissfetisch zurückweist, bis ein Vorschlag vorliegt, der die Würde jedes Menschen achtet? Denn was Grundrechte verletzt, sollte niemals zur Abstimmung vorliegen.

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Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Ihr erster Roman 'Wovon wir träumen' erschien 2022 bei Piper. Zuletzt wurden ihre Kurzgeschichten in Das Wetter Buch für Text und Musik und Delfi Zeitschrift für Neue Literatur veröffentlicht.

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