Chaos im ganzen Land

In der fünften Krawallnacht in Frankreich ist die Zahl der Verhaftungen zurückgegangen. Damit scheint sich die Lage zum Sonntag nach dem tödlichen Polizeischuss auf einen Jugendlichen etwas beruhigt zu haben. Die Regierung soll nun die Initiative übernehmen

In der Nacht von Samstag auf Sonntag nahm die Polizei im ganzen Land über 700 jugendliche Randalierende fest Foto: Juan Medina/reuters

Aus Paris Rudolf Balmer

Am Sonntagvormittag zog Innenminister Gérald Darmanin, wie schon an den Vortagen, seine Bilanz einer vierten Krawallnacht in Frankreich mit Plünderungen, Verwüstungen von Geschäften, Angriffen auf öffentliche Gebäude und Fahrzeuge. Etwas mehr als 700 meist sehr junge Personen wurden festgenommen. In der Nacht auf den Samstag waren es doppelt so viele.

Ist das bereits ein erstes Zeichen einer Beruhigung? Das hofft der Innenminister, der mit 45.000 Angehörigen von Polizei und Gendarmerie und selbst Eliteeinheiten praktisch alles eingesetzt hatte, was ihm für die innere Sicherheit zur Verfügung steht.

Auch die als Abschreckung gedachte starke Präsenz der Ordnungskräfte mit Panzerfahrzeugen konnte indes nicht verhindern, dass die Gewalt in zahlreichen Städten und Quartieren erneut eskalierte. Zum Teil auch am hellen Tag griffen kleine Gruppen von Jugendlichen im Zentrum von Marseille, Straßburg oder Nizza, aber auch in mehreren Vororten der Hauptstadt Paris Geschäfte oder ganze Einkaufszentren an. Besonders interessiert waren die Plünderer an Mode- und Sportartikeln, Handys, alkoholischen Getränken oder Zigaretten. Ein Teil davon wurde wenig später auf der Straße zum Verkauf angeboten.

Die jugendlichen Randalierer und Plünderer scheinen vor nichts mehr Angst oder Respekt zu haben. Mit dem Tod des 17-jährigen Nahel, der am Dienstag von einem Polizisten in Nanterre erschossen worden war, hat diese zusehends blinde Gewalt nichts mehr zu tun. Das jedenfalls meinen die Bürgermeister der Kommunen und Stadtviertel, in denen öffentliche Gebäude und Einrichtungen wie Polizeiposten, Schulen, Konzertsäle oder Verwaltungen verwüstet oder verbrannt wurden. Ihre Versuche, mit den Jugendlichen zu diskutieren oder ihre Eltern zur Verantwortung zu ziehen, blieben weitgehend erfolglos. In mehreren Fällen wurden sie selbst Opfer von Angriffen, wie im Süden von Paris der Bürgermeister von L’Haÿ-les-Roses, Vincent Jeanbrun, dessen Haus in der Nacht auf Sonntag von Unbekannten mit einem als Rammbock verwendeten Fahrzeug attackiert wurde.

Nur eine beschränkte Wirkung hatte das in zahlreichen Kommunen verhängte Ausgehverbot ab 21 Uhr. In der Pariser Region war um diese Zeit auch der öffentliche Verkehr mit Bus und Tramway eingestellt worden. Das traf die gesamte Bevölkerung der Außenquartiere der Banlieue, die sich damit erst recht isoliert und oder gar bestraft vorkommen musste.

Was kann die Regierung tun? Auf das Chaos im Land hat die Staatsführung außer Repressionsversuchen wenige Antworten. Noch mehr Ordnungskräfte? Drakonische Strafen für die in flagranti Festgenommenen oder Sanktionen für ihre Eltern?

Macron hält sich bislang möglichst aus der Öffentlichkeit zurück. Sein Image ist angeschlagen, für ihn ist es eine Schmach vor der Weltöffentlichkeit, dass er seinen dreitägigen Staatsbesuch in Deutschland verschieben musste. Doch kaum jemand in Frankreich würde es verstehen, wenn er ins Ausland reiste, während sein Land im Chaos zu versinken droht. Man hat nicht vergessen, wie schlecht es im Mai 1968, auf dem Höhepunkt der Jugendrevolte, ankam, als General Charles de Gaulle ins Exil nach Baden-Baden flüchtete. Von Macron wird jetzt Ini­tiative erwartet.

Die offensichtliche Ratlosigkeit des Präsidenten, der mehrere Krisensitzungen abgehalten hat, wird zu einem politischen Problem für die Staatsführung. Diese möchte offenbar, wie bisher immer bei sozialen Konflikten, auf Zeit spielen, auch wenn die Kosten damit enorm steigen. Das Verständnis dafür ist heute allerdings gering. Nicht bloß bei den Geschäftsleuten, die in den Krawallnächten viel verloren haben, oder in den armen Vororten, deren spärliche Infrastrukturen verbrannt und verwüstet wurden. Aber auch nicht seitens der Jugendlichen, die seit Jahren die Polizei nicht als schützende Macht im Dienst der Allgemeinheit, sondern als Bedrohung empfinden. Am Sonntagnachmittag kündigte Macron immerhin an, am Abend (nach Redaktionsschluss) einen Lagebericht abgeben zu wollen.