Deutsche stehen schon im Endspiel

Das DFB-Team lässt sich von Kolumbien überraschen und muss nach dem 1:2 nun die Südkoreanerinnen schlagen, um sicher weiterzukommen

„Das ist megabitter“: Alexandra Popp (l.) im Duell mit Jorelyn Carabali Foto: reuters

Aus Melbourne Frank Hellmann

Party machen geht in Sydney ziemlich gut. Darling Habour und Kings Cross sind bekannte Anlaufpunkte, an denen am Wochenende der größte Trubel veranstaltet wird. Hochstimmung herrschte am Sonntagabend auch im Sydney Football Stadium. Jedoch nicht der zweifache Weltmeister Deutschland hat sich nach dem zweiten Gruppenspiel abgeklatscht, sondern die bislang nie übers Achtelfinale hinausgekommenen Fußballerinnen aus Kolumbien feierten ausgelassen mit Unterstützung von 40.499 Augenzeugen eine faustdicke Überraschung bei dieser WM. Der nicht unverdiente Last-Minute-Sieg gegen das konsternierte DFB-Team sorgte für eine Explosion der Gefühle: In der siebten Minute der Nachspielzeit wuchtete Manuela Vanegas nach einer Ecke völlig freistehend die Kugel zum 2:1 über die Linie – und veränderte die Ausgangslage in der Gruppe H komplett.

„Wir haben es nicht mehr selbst in den Füßen – das ist jetzt eine andere Situation“, sagte Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg ernüchtert. Direkt nach Abpfiff war die 55-Jährige bereits um Aufbauarbeit für das letzte Gruppenspiel gegen Südkorea in Brisbane (Donnerstag 12 Uhr/ZDF) bemüht, denn die erste Niederlage in einer WM-Vorrunde seit 1995 – damals im zweiten Spiel gegen Gastgeber Schweden (2:3) mit Martina Voss als Spielerin – sät Zweifel an der Mission vom dritten Stern. Vor allem die Entstehung der entscheidenden Ecke ärgerte die Trainerin immens. „Das müssen wir sauber runterspielen. Wir müssen mehr an Ergebnisfußball denken.“

Ein Remis hätte ja wegen des Kantersiegs gegen Marokko (6:0) letztlich gereicht, „nun ist Druck da“, wie Voss-Tecklenburg zugab. Parallelen zu den Männern bei der WM 2018, die im letzten Gruppenspiel gegen Südkorea ausschieden, wehrte die DFB-Angestellte vehement ab. „Sorgen in dem Sinne helfen nicht. Wir müssen uns jetzt schütteln und die Aufgabe bewältigen.“ Südkoreas Nationaltrainer Colin Bell wird sich trotz zweier Niederlagen für die abgeschlagenen Asiatinnen etwas überlegen, um der deutschen Elf ein Bein zu stellen.

Deren Mängel verschwieg Voss-Tecklenburg nicht. In der ersten Hälfte hätten ihre Spielerinnen „die Räume nicht erkannt, ein Tick zu viel lange Bälle gespielt“. Auch in der zweiten Halbzeit lief trotz einer Steigerung umso weniger zusammen, desto näher es an den Strafraum ging. „Wir haben die 100-prozentigen Torchancen nicht in Hülle und Fülle gehabt“, gab die Bundestrainerin zu, die „Positionierung, Passqualität und Präzision“ vermisste, um gefährlicher ins letzte Drittel zu kommen. Ein Manko, das sich wie ein roter Faden durchs Länderspieljahr zieht.

Das Mittelfeld mit Lena Oberdorf, Lina Magull und Sara Däbritz verrichtete in der extrem intensiven und höchst spannenden Auseinandersetzung viel Lauf- und Defensivarbeit, doch die zündenden Ideen wie vorm 1:1 von Alexandra Popp (89.) hatten Seltenheitswert. Da hatte Däbritz mal einen Steckpass gespielt, die eingewechselte Lea Schüller verlängert, sodass die freigespielte Oberdorf von Kolumbiens Keeperin Catalina Pérez von den Beinen geholt wurde. Deutschlands Kapitänin verwandelte den Elfmeter nervenstark – und war doch später ziemlich angefressen. „Es ist megabitter, durch einen solchen Standard zu verlieren. Uns hat aber auch der letzte Mut Richtung Tor gefehlt“, monierte die 32-Jährige.

Es war die erste deutsche Vorrunden­pleite seit 1995 – und die zweite überhaupt

Der Vorwurf geht vor allem an die beiden Außenstürmerinnen Jule Brand und Klara Bühl, die sich zu häufig festliefen, Bälle verloren oder zu früh in die Mitte zogen. Die als Rechtsverteidigerin zweckentfremdete Svenja Huth könnte vorne mehr bewirken – und eigentlich hätte Nicole Anyomi auch mal einen Startelfeinsatz verdient. Gerade bei der erst 20-jährigen Brand wirkt das im vergangenen Jahr nach der EM verpasste Etikett vom „Golden Girl“ verfrüht.

Wer solche Auszeichnungen definitiv verdient hat, ist Linda Caicedo. Lange kam das kolumbianische Wunderkind kaum zur Geltung, weil das deutsche Team sich gut auf die körperliche Gangart eingestellt hatte. Doch dann genügte der 18-Jährigen ein Geistesblitz, um die Arena im Moore Park fast zum Beben zu bringen. Wie Caicedo erst Huth austanzte und dann den Ball in den Winkel schlenzte, war ein Führungstor fürs Geschichtsbuch (52.). In Kolumbien nennen sie die Ausnahmespielerin „La Neymar“ – nur kann man sich nur gar nicht erinnern, wann der brasilianische Selbstdarsteller zuletzt so etwas hinbekommen hat.