Kommentar von Pascal Beucker zur Friedensdiskussion auf dem Verdi-Bundeskongress
: Antimilitaristisches Selbstverständnis auf dem Prüfstand

Es war ein langes, schweres Ringen. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hat sich ihren Umgang mit dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht leicht gemacht. Die Frage von Krieg und Frieden war das bestimmende Thema auf dem Bundeskongress der zweitgrößten Einzelgewerkschaft Deutschlands. Es mag auf den ersten Blick verwundern, dass kein klassisches gewerkschafts-, sondern ein allgemeinpolitisches Thema im Mittelpunkt der sechstägigen Veranstaltung in Berlin stand. Aber zum Selbstverständnis von Verdi gehört seit der Gründung der Antimilitarismus. Bis heute zählt sich die Gewerkschaft ausdrücklich zur Friedensbewegung. Doch was heißt das seit dem 24. Februar 2022?

Die rund 900 Delegierten haben heftig miteinander für die richtige Antwort gekämpft. Am Donnerstag diskutierten sie von 15 bis 22 Uhr leidenschaftlich über den Leitantrag „Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung in einer Welt im Umbruch“. Der Leitantrag war im Vorfeld in einer von mehr als 11.700 Menschen unterzeichneten Petition als „der finale Kniefall vor militaristischer Logik“ und „erneuten Schulterschluss der Gewerkschaften mit dem deutschen Kriegskurs“ denunziert worden. Auch auf dem Kongress waren solche Stimmen zu hören, die den fundamentalen Unterschied zu 1914 nicht erkennen konnten oder wollten. Aber sie waren klar in der Minderheit.

Tatsächlich ist es den versammelten Ge­werk­schaf­te­r:in­nen gelungen, die schwierige Debatte, welcher Weg der richtige ist, damit der fürchterliche Krieg in der Ukraine endet, weitgehend in gegenseitigem Respekt und ohne bösartige Unterstellungen zu führen. Letztlich folgte eine Dreiviertelmehrheit der Linie der Gewerkschaftsspitze, weder realitätsblind an alten Gewissheiten festzuhalten noch in ein Denken in rein militärischen Kategorien zu verfallen. Das bedeutet zum einen, dass sich Verdi – wie sonst nur noch die Linkspartei – deutlich sowohl gegen das 100-Milliarden-„Sondervermögen“ für die Bundeswehr als auch gegen das Zweiprozentziel der Nato ausspricht. Zum anderen gehört zu dem Bekenntnis, weiterhin Krieg als Mittel der Politik entschieden abzulehnen, aber eben auch, solidarisch mit den angegriffenen Menschen in der Ukraine zu sein.

Konkret heißt das, dass das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine schweren Herzens auch die Lieferung deutscher Waffen rechtfertigt. Denn die Alternative wäre die Kapitulation vor dem imperialistischen Aggressor. Ebenso richtig ist es jedoch, von der Bundesregierung, der EU und der internationalen Staatengemeinschaft zu fordern, „alle diplomatischen Bemühungen zu unternehmen, das Töten und die Vergewaltigung von Menschen in der Ukraine so schnell wie möglich zu beenden“.