CO2-Uhr springt auf drei Jahre: Der 1,5-Grad-Countdown

Die Klima-Uhr der taz zeigt: Nur noch drei Jahre, dann ist das weltweite CO2-Budget für 1,5 Grad abgelaufen. Rasches Handeln wird immer dringlicher.

Person, die von zwei Menschen in Sicherheitsjacken weggetragen wird

AktivistInnen von Extinction Rebellion beim Protest in London Foto: Henry Nicholls/reuters

BERLIN taz | „Wir nennen uns Letzte Generation, weil wir die letzte Generation sind, die den totalen Klimakollaps noch aufhalten kann“, sagt Lea Bonasera, als sie an einem kalten Wintermorgen zusammen mit zwei AktivistInnen loszieht. Der ARD-Film „Ernstfall – Regieren am Limit“ begleitet die KlimaschützerInnen, wie sie sich auf einer Straßenkreuzung am Boden festkleben. Er dokumentiert auch ihre Begründung dafür, schnell drastische Maßnahmen zu fordern: „Zwei bis drei Jahre, in dieser Zeit entscheiden wir über das Schicksal der Menschheit.“

Zwei bis drei Jahre bis zur Entscheidung – es klingt, als habe die Gründerin der Letzten Generation vorher noch mal schnell auf die „CO2-Uhr“ der taz geschaut. Die nämlich zeigt seit Oktober 2021 auf der Homepage einen Countdown, wann das globale CO2-Budget aufgebraucht sein soll, das der Welt eine Chance gibt, die Erderhitzung bei 1,5 Grad Celsius zu stoppen. Und am Sonntag, 1. Oktober, um 17.30 Uhr stellt sich diese Uhr auf „3 Jahre“.

In der Logik des CO2-Budgets heißt das: Am 1. Oktober 2026 hat die Welt so viel Kohlenstoff in die Atmosphäre geblasen, dass eine Erwärmung von 1,5 Grad Celsius über das vorindustrielle Niveau nicht mehr zu vermeiden ist. Ist dann das „Schicksal der Menschheit“ entschieden? Die Klimakatastrophe nicht mehr aufzuhalten? Game over?

Klar ist: Die 1,5-Grad-Grenze ist ein politisches Ziel, das von den besten Ergebnissen der Wissenschaft untermauert wird (siehe Kasten). Aber sie ist keine so feste Größe, dass kurz danach mit Sicherheit Dinge passieren, die kurz vorher nicht passieren würden. Das Budget ist keine absolute naturwissenschaftliche Grenze. Es ist, so betonen es die CO2-Uhrmacher, ein Instrument, um die Dringlichkeit des abstrakten Problems möglichst konkret zu kommunizieren.

Während der UN-Klimakonferenz in Paris 2015 setzten vor allem die Inselstaaten und Umweltverbände das 1,5-Grad-Ziel auf die Agenda. Der Kompromiss im Pariser Abkommen lautet: Die Erwärmung solle „deutlich unter 2 Grad Celsius gehalten werden, und Anstrengungen unternommen werden, den Anstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen.“

Danach sieht es derzeit aber nicht aus: Bisher steht die langfristige Erderwärmung bei etwa 1,15 Grad über dem vorindustriellen Niveau, schon im Super-Heißjahr 2023 könnte zeitweilig die globale Mitteltemperatur über 1,5 Grad steigen. Wissenschaftler auf dem Extremwetterkongress Hamburg haben gerade erklärt, das 1,5-Grad-Ziel sei praktisch tot.

Die Ironie dahinter: Während seit Paris 2015 immer mehr Treibhausgas in die Atmosphäre gelangt, wurde das Klimaschutz-Ziel immer anspruchsvoller. Wie groß der Unterschied zwischen 2 und 1,5 Grad ist, zeigte 2018 ein Sonderbericht des UN-Klimarats IPCC: Bei 2 Grad verlieren wir 2- bis 3-mal so viele Pflanzen- und Tierarten; Extremhitze steigt auf 4- (1,5 Grad) bis 6-mal (2 Grad) pro Jahrzehnt; 1,5 Grad zerstört 70 Prozent der Korallenriffe, 2 Grad praktisch alle. Vor allem: Jenseits von 1,5 Grad werden irreversible „Kipppunkte“ im Klimasystem wahrscheinlicher: etwa in den Eisregionen, dem Amazonas, dem Golfstrom. (bpo)

Dabei gibt es Unschärfen. Sie beginnen zum Beispiel damit, dass die taz-Uhr schneller tickt als ihr Vorbild: Entwickelt wurde die Uhr am renommierten Thinktank „Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change“ (MCC) in Berlin. Die WissenschaftlerInnen dort setzen seit Jahren die Schätzungen des UN-Weltklimarats IPCC zum noch verbleibenden „CO2-Budget“ in einen Kohlenstoff-Countdown um. Der berechnet nicht nur das Budget für 1,5 Grad – sondern auch das für 2 Grad, bis 2015 die offizielle Zielmarke im UN-Klimaschutz. Bis dahin sind es noch 23 Jahre und 7 Monate.

Es kommt nicht auf Tage und Monate an

Die MCC-CO2-Uhr steht nicht nur auf der Homepage – sondern prangte auch lange nachts angeleuchtet am alten Gasspeicher in Berlin-Schöneberg, am Standort des MCC. Und sie läuft etwa zwei Jahre und neun Monate langsamer als sein Nachbau in der taz. Denn die taz hat 2023 nach einer neuen Berechnung des Budgets die Uhr nachgestellt.

Das MCC bleibt bei seiner Datengrundlage, dem IPCC-Bericht – und hat das Budget nach einer Korrektur dort sogar leicht vergrößert. Aber letztlich seien Tage und Monate nicht entscheidend, heißt es vom MCC. Schon als die Uhr eingerichtet wurde, hatte die MCC-Vizechefin Brigitte Knopf gesagt: Es sei „eine Marginalie, ob die Uhr jetzt 5, 9 oder 15 Jahre zeigt“. Es gehe darum, die Richtung zu zeigen, die Dringlichkeit zu demonstrieren und die Idee eines Budgets zu verankern, das schnell schrumpft.

Das Instrument soll klarmachen, dass die Klimakrise anders ist als andere Probleme – die Emissionen häufen sich an wie bei einer Badewanne, die vollläuft. Und wenn ein Budget erreicht ist, folgt daraus (allerdings mit einer gewissen Verzögerung und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, hier sind es 67 Prozent) eine bestimmte Erwärmung der Erdatmosphäre.

Dieser „Budgetansatz“ ist in der Klimaschutz- und Wissenschafts-Community so beliebt, weil er die Erzählung kontert, die im politischen Betrieb populär ist: Wenn Deutschland erst 2045 klimaneutral sein will, haben wir ja noch 22 Jahre Zeit, also über fünf Legislaturperioden. CDU-Chef Friedrich Merz hat behauptet, für die entscheidenden Weichen dafür habe man „noch 20 Jahre Zeit“, die Politik von SPD und FDP in der Ampelkoalition legt ein solches Denken zumindest nahe.

Konzept mit Grenzen

So kann man die CO2-Uhr in der aufgeheizten Debatte auch lesen, wie sie ihre Erfinder nie sehen wollten. Einerseits als Entwarnung: Bis zur 2-Grad-Grenze sind noch 23 Jahre Zeit. Oder als Entmutigung, weil das 1,5-Grad-Budget übermorgen abläuft – ist dann nicht eh alles zu spät? Die Idee der MCC-Uhrmacher war eine ganz andere: zeigen, wie dringend gehandelt werden muss – aber gleichzeitig betonen, dass nach dem Ablauf des Budgets „nicht plötzlich die Welt untergeht“, wie Brigitte Knopf sagt.

Das Konzept hat seine Grenzen, geben die Macher zu. Das MCC nutzt nur IPCC-Daten, aber auch dort ist klar: Das Budget kalkuliert die Emissionen der Zukunft – ein Einbruch der Weltwirtschaft wie bei Corona, eine globale Rezession oder technische Durchbrüche können den Trend verändern.

Dazu kommt: Das Budget fußt auf Szenarien, die die Zielerreichung mit 67 Prozent Wahrscheinlichkeit sehen – andere IPCC-Rechnungen mit 83 oder 50 Prozent kommen dann eben zu kleineren oder größeren Summen. Die Wahrscheinlichkeit für drastische Folgen der Erderhitzung und das Auslösen von „Kipppunkten“ nehmen laut IPCC-Sonderbericht ab 1,5 Grad deutlich zu, sind aber auch vorher virulent – was die Extremereignisse in diesem Jahr zeigen, wo „nur“ 1,15 Grad Erwärmung auf dem Thermometer steht. Außerdem: Die Unsicherheiten in den IPCC-Kalkulationen zum Budget, warnen selbst IPCC-AutorInnen, sind fast so groß wie das Budget selbst.

Und: Der Budgetansatz ist beliebt, aber nicht offiziell sanktioniert. In der UNO, der EU und auch in Deutschland gibt es keine offiziellen CO2-Budgets für Länder – nur etwa beim Emissionshandel und beim deutschen Klimaschutzgesetz (dort allerdings nur bis 2030 als Obergrenze für „Sektorziele“, also der Budgets für einzelne Bereiche wie den Verkehr, deren Abgrenzung aber gerade verwässert wird.)

Kein weltweites Budget denkbar

Auf ein weltweites CO2-Budget könnten sich die Staaten niemals einigen. Die Klimaziele werden traditionell in absoluten Tonnen und prozentualen Rückgängen verhandelt, das ist schwer genug. Auch dabei sind die Daten oft unsicher und heiß umkämpft. Aber ein Budget hieße, verschiedenen Staaten ihren Anteil zuzurechnen – und da ginge der Streit richtig los.

Wer entscheidet nach welchen Kriterien darüber, welches Land (oder welche Branche? Oder welche Stadt?) wie viel CO2 emittieren darf? Gilt das für heute, und China muss sich zuerst einschränken? Gilt das für die historischen Emissionen und der Globale Norden muss schnell reduzieren? Geht es nach Pro-Kopf-Ausstoß, und die Ölstaaten am Golf müssen besonders viel tun? Geht es nach Reichtum und Westeuropa, wohlhabende Ölstaaten, Korea und Singapur müssen vor allen anderen sparen und zahlen?

Die Uhren bei taz und MCC erstellen ein globales Budget. Einen Vorstoß des deutschen Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU) von 2020 für ein deutsches CO2-Budget hat die Politik nie aufgenommen – mit Verweis darauf, das Pariser Abkommen sehe das nicht vor und Deutschlands Klimapolitik sei in der EU verwurzelt. Laut SRU läuft das „faire“ deutsche Budget für 1,5 Grad im Jahr 2031 ab.

Aber das kann man auch anders sehen: Das „New Climate Institute“ etwa hat für Campact errechnet, dass Deutschlands Budget schon 2030 erschöpft ist – und bei Berechnung seine historischen Emissionen bereits überschritten, sodass nur umfangreiche Klimafinanzierung für arme Staaten und die Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre Deutschland auf einen Klimapfad zu 1,5 Grad bringen können.

Was kommt danach?

Aber was passiert in 3 Jahren, in 5, 9, 15 Jahren, wenn das Budget überschritten ist und die 1,5 Grad erreicht sind? Mit dieser Frage hat sich eine UN-Kommission aus ehemaligen Staatschefs und Wissenschaftlern beschäftigt.

Die „Climate Overshoot-Commission“ empfiehlt, was zu tun ist, wenn das Budget erschöpft ist – ein „großes und wachsendes Risiko“, wie sie schreibt. Für diesen Fall empfiehlt sie: Emissionen stark reduzieren; Anpassung an die Klimakrise vorantreiben; mit natürlichen und technischen Mitteln möglichst viel CO2 aus der Atmosphäre binden; das Verdunkeln der Sonne (Geoengineering) erforschen, aber für große Experimente dazu ein Moratorium verhängen.

Der Kommission ist klar: Die Emissionen müssen schnell sinken, damit die Welt aufhört „das Problem schlimmer zu machen“. Dabei zählt jedes Zehntelgrad. Für die CO2-Uhren heißt das: Jeder Tag weniger, an dem das Budget überzogen wird, ist wichtig – wie immer das im Detail aussehen mag.

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