Trauer und Wut: Die Fakten des Terrors

Es ist, als hätten wir Juden am 7. Oktober die Luft angehalten und bis heute nicht ausatmen dürfen. Und die Zeichen von Solidarität sind rar.

Ein weißer Plastikstuhl steht in einem ausgebrannten, zerstörten Raum

Die Spuren des Terrors im Kibbuz Kfar Aza Foto: Evelyn Hockstein/reuters

Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen geliebten Menschen verloren, weil dieser ermordet, regelrecht abgeschlachtet worden ist. Stellen Sie sich vor, Menschen aus Ihrer Familie, Ihre Freunde oder Menschen, mit denen Sie sich tief verbunden fühlen, werden als Geiseln gehalten, von Terroristen. Und nun stellen Sie sich vor, zu all diesem Schrecken käme hinzu, dass Sie noch keine Zeit hatten zu trauern, Sie Ihren Wunsch nach Trauer rechtfertigen müssen, Sie die Toten noch nicht begraben oder die Geiseln zurück in Ihre Arme schließen konnten und die Taten, deretwegen Sie trauern müssen, von anderen „kontextualisiert“ werden und es heißt: Ja, aber! Und die Opfer sind doch selber schuld!

Ich wage zu behaupten: Nicht wenige Juden weltweit fühlen sich so. Es ist, als hätten wir Juden kollektiv am 7. Oktober die Luft angehalten und bis heute nicht ausatmen dürfen. Werden wir je wieder frei und ohne Angst atmen können?

Vor fünf Wochen habe ich noch viele Nachrichten bekomme: Ich hoffe, es geht dir gut; ich denke an dich; schlimm das alles. Mittlerweile sind es weniger geworden. Bekannte und Freunde, die sich zunächst zurückhielten, sind plötzlich laut und schreien ins Internet: Genozid! Waffenstillstand! Beim schlimmsten Massaker an Juden seit der Shoa waren sie aber still. Sie teilen irgendwelche Kacheln auf Instagram, und ich stelle mir vor, wie sie das beiläufig machen, beim Nudelkochen oder auf dem Klo sitzend, und es ihnen egal ist, dass sie da Propaganda verbreiten oder der Urheber eines Posts ein Islamist ist.

Mich überrascht das kein bisschen. Weh tut es trotzdem. In den Medien wird nun häufiger verharmlosend von der „Eskalation im Nahen Osten“ gesprochen. Es ist die Rede von einer „Spirale der Gewalt“. Ein Waffenstillstand wird gefordert. Parallel dazu steigt von Wochenende zu Wochenende die Teilnehmerzahl israelfeindlicher Demonstrationen. Schilder werden hochgehalten, mit voller Überzeugung, auf denen es heißt, die Vernichtung von Juden in den Gaskammern 1933 sei dasselbe wie die Raketen auf Gaza 2023.

Polizisten überrumpelt

Ich möchte den Schild-Urhebern entgegenschreien, dass Juden 1933 noch gar nicht vergast wurden, aber Fakten interessieren sie ja nicht. Islamisten marschieren auf, wie in Essen, und die Polizisten stehen überrumpelt an der Seite, scheinbar machtlos, weil diese Islamisten sie angeblich getäuscht und Symbole abgewandelt hätten, wie der Essener Polizeipräsident sagte. Wenn nicht mal mehr die Polizei Terror erkennt, auf wen können wir uns dann noch verlassen?

In Lyon wird derweil eine Jüdin mit Messerstichen in ihrer Wohnung aufgefunden. An ihrer Tür prangt ein Hakenkreuz. In Los Angeles wird der Jude Paul Kessler von einem propalästinensischem Demonstranten mit einem Megafon zu Boden geschlagen. Kessler trug eine Israelfahne bei sich. Er stirbt später an seinen Verletzungen. Es wird wegen Mordes ermittelt.

Wo bleiben die großen Demos? Wo bleibt der Aufschrei? Wo sind all die Engagierten, die uns öffentlich versichern: Ein getöteter Jude. Eine mit Messerstichen verletzte Jüdin. 1.400 tote Israelis. 242 Geiseln. Wir prangern an!

Ich habe Angst, aber auch so viel Wut. Ich beobachte an mir selbst, wie ich hart werde. Ich trage einen unsichtbaren Schutzpanzer gegen potenzielle Angriffe, um mich vor denjenigen zu schützen, die sich nicht an Fakten halten können.

Terror ist Vernichtung, ist Tod. Kein Widerstand. Das ist Fakt. Fakt ist, dass sich die Hamas nicht für palästinensische Zivilisten interessiert. Sie sagt, sie sei nicht für sie verantwortlich. Dass unschuldige Zivilisten in Gaza sterben, von Hamas-Terroristen als menschliche Schutzschilde genutzt werden, ist auch Fakt und bricht mir das Herz. Fakt ist, dass 1.400 israelische Zivilisten vergewaltigt, verbrannt, zerstückelt wurden. Sie sind tot. Und sie fehlen, für immer.

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Redakteurin für Gesellschaft im Ressort taz zwei. Schreibt über postsowjetische Migration, jüdisches Leben und Antisemitismus sowie Osteuropa. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.

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