Theologe Fulbert Steffensky: „Wir müssen nicht die Letzten sein“

Fulbert Steffensky, 90, prägte mit seiner Frau Dorothee Sölle wie kaum jemand die Evangelische Kirche. Ein Gespräch über die Schönheit und das Alter.

Der Theologe Fulbert Steffensky, ein grauhaariger Mann in braunem Cordjackett

„Ich habe es aufgegeben, mich zu durchschauen“ Foto: Olaf Ballnus

Wir sind in Luzern verabredet, wo Fulbert Steffensky mit seiner zweiten Frau, der katholischen Theologin Li Hangartner, in einer schönen Parterrewohnung mit Garten lebt, nicht weit vom Vierwaldstättersee. Es will uns nicht gelingen, genau herauszufinden, wann wir uns das erste Mal begegnet sind. Wir vermuten, es könnte beim Evangelischen Kirchentag 1981 in Hamburg gewesen sein, dem „Friedenskirchentag“, der geprägt war von der Nachrüstungsdebatte. Wir sitzen in der Wohnküche. Er bittet darum, sich hin und wieder hinlegen zu dürfen, „ich sacke dann ab und muss erst wieder Kraft sammeln“.

Der Theologe

1933 in Rehlingen, Saarland, geboren. Nach der Schule studierte er katholische und evangelische Theologie. Danach Eintritt ins Benediktinerkloster Maria Laach – wo er, geboren mit dem Vornamen Edmund, auch den Ordensnamen Fulbert erhielt. 1966 lernt er die evangelische Theologin Dorothee Sölle kennen, tritt aus dem Kloster aus und konvertiert 1969 zur evangelischen Konfession.

Der Pädagoge

Steffensky war zunächst Erziehungswissenschaftler an der Fachhochschule Köln und bis zu seiner Pensionierung 1998 Professor für Religionspädagogik an der Universität Hamburg.

Heute

Er ist in zweiter Ehe, nach Dorothee Sölles Tod 2003, mit der katholischen Theologin Li Hangartner verheiratet und lebt mit ihr in Luzern, Schweiz.

wochentaz: Fulbert, im Sommer hast du das 90. Lebensjahr vollendet. Wie ist es, alt zu sein?

Fulbert Steffensky: Eine gute Frage, denn du kannst es ja nicht wissen – so jung noch. Ich würde meinen Gemütszustand als einen der grimmigen Heiterkeit beschreiben. Heiter: Mir geht es leidlich gut. Ich habe Freunde und Freundinnen, eine Frau, die mich liebt und mit der ich streiten kann. Ich habe Enkelkinder und sogar eine Urenkelin. Bin gewandert, habe mein Leben gelebt und mein Brot gegessen. Ich habe geliebt und liebe. Und ich habe mich an vielen Stellen selbst verpasst. Ich bin an vielen Stellen nicht der geworden, den ich mir selbst gewünscht habe, vielleicht zum Glück.

Stört dich das?

Nein. Ich habe einen Reichtum gelebt als Leben, dass ich nur dankbar sein kann. Ich starre nicht auf die Verluste des Lebens, die es natürlich auch gegeben hat. Ich habe noch keine Zeit, von meinem absehbaren Tod gebannt zu sein. Er kommt früh genug. Meine Dankbarkeit, meine Gefühle für das, was mein Leben war und ja noch ist, sind für mich wie Neuschöpfungen auch meiner selbst, Tag für Tag.

Hast du eine Vorstellung vom Sterben?

Nein, ich lasse mich überraschen. Ich habe keine Angst. Ich habe gute Lehrmeister, meine verstorbene Frau …

die legendäre Theologin Dorothee Sölle …

… ja, sie und die vielen Toten, die vor mir gestorben sind, sie lehren mich, dass man sterben kann. Sie haben es gekonnt, so werde ich es auch können, mehr oder weniger gut. Es muss ja nichts vollkommen gelingen, nicht einmal das Sterben. Ich bin, wie sie, gegen­ die nur scheinbar tröstende Idee vom ewigen Weiterleben. Zur Größe des Menschen gehört es, die eigene Vergänglichkeit anzuerkennen, so sollten wir es auch mit dem Tod halten. Dorothee sagte, ohne das Sterben können auch politisch keine Grenzen angegeben werden. In der zerstörerischen Grenzenlosigkeit dem Leben gegenüber drückt sich vielleicht die Angst vor dem Tod und vor dem Vergehen aus.

Und das heißt?

Wir müssen nicht verbissen auf uns selbst bestehen. Wir leben, wir setzen uns ein, kämpfen – und irgendwann kommen nächste, andere, die diese Kämpfe bestreiten. Wir müssen nicht die Letzten sein – herrlich!

Du sprachst von Dankbarkeit, die du empfindest.

Dankbar für das Schöne. Für die Liebe, für die Freundschaften, die ich erlebt habe. An bestimmten Stellen habe ich das Leben verraten, aber man hat mir vergeben. Und neue Möglichkeiten gezeigt. Ich entdecke die Risse im eigenen Leben und will vor ihrer Entdeckung nicht zurückschrecken. Wer lebt und liebt und sich nicht vor dem Leben geschützt hat, hat seine Niederlagen, solche, die er erlitten hat, und solche, die er verursacht hat.

Was verstehst du darunter?

Wenn ich mein Leben überdenke, komme ich über meine Scham nicht hinweg. Darüber, was ich falsch gemacht habe. Ich will ein Beispiel nennen. Ich war 13 Jahre in einem Kloster. Ich habe es verlassen, ich habe meine Brüder allein gelassen. Ich habe ihnen etwas angetan.

Ein Bedauern, weggegangen zu sein?

Nein, es war ja mein Weg. Trotzdem: Ich habe es meinen Brüdern angetan. Vielleicht ist Scham nicht das richtige Wort. Vielleicht beschreibt Scham, wo der Mensch hätte handeln sollen und nicht gehandelt hat. Ich schäme mich etwa, dass ich irgendwo die Wahrheit verweigert habe. Eine Hilfe verweigert habe, die ich hätte leisten können. Wer wirklich gelebt hat, wird sich wohl an viele Stellen des Verrats erinnern. Es gehört zur Würde des Menschen, vor sich selbst die Augen nicht zu verschließen. Scham oder Reue sind Begriffe der Größe und Schönheit des Menschen. Es ist mir erlaubt, ein Verwundeter zu sein. Es ist mir gar erlaubt, Fragment zu sein.

Das klingt bescheiden. Ist es so gemeint?

Die Qualität des Lebens liegt nicht in der gelungenen Ganzheit, nicht dass ich ein mustergültiger Ehemann, Vater, Lehrer, Staatsbürger bin. Es gibt auch die Gnade einer gelungenen Halbheit. Das sage ich gegen allen Ganzheits­terror, den manchmal die Kirchen, manchmal noch mehr die Gesellschaft ausüben.

Die Ansprüche vieler an sich selbst sind zu hoch? Plädierst du für Nachsicht?

Es gibt ja, materiell gesehen, die Armen, die noch mit ganz anderen Problemen hadern. Ich verstehe, dass sie am Ende ihrer Leben verzweifelt sind. Ich meine jedoch hier die anderen, die Undankbarkeit auf hohem Niveau kultivieren und immer noch fragen: War das alles? Sie bringen es nicht fertig, einfach Ja zu ihrem Leben in seiner ganzen Halbheit zu sagen.

Der Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin äußerte als schon sehr alter Mann, er habe keinen Sinn für Schmerzen, die mit dem Alter einhergehen. War das zu profan empfunden?

Es gibt Schmerzen, Verluste, die selbstverständliche, unangenehme Begleiter des Alters sind. Es kann schon sein, dass wir Alten uns fesseln lassen, sodass wir nichts anderes mehr wahrnehmen als uns selbst. Es ist nicht leicht, dieser Selbstfesselung zu entkommen. Auch im Alter noch mehr wahrnehmen zu können als sich selbst, das wäre Freiheit.

Du kommst nicht aus den bildungsbürgerlichen Verhältnissen, in denen du als Erwachsener meist gelebt hast. Wie war dein Weg?

Ich komme aus dem Saarland, aus der Arbeiterkultur. Mein Vater war Buchhalter, er hat in einem großen Stahlwerk gearbeitet. Alle haben unglaublich viel gearbeitet. Für Bücher gab es kaum Geld noch Zeit. Es war eine Welt der Kargheit.

1933 geboren, zu Beginn der Nazizeit.

Meine Familie war nicht in der Partei und nicht nazifreundlich, der selbstverständliche katholische Glauben war ein gewisser Schutz. Aber irgendeine Form des Widerstands war undenkbar.

In welcher Hinsicht war es eine karge Welt?

Es war keine Welt bitterer Armut. Doch für das, was über die unmittelbare Daseinsvorsorge hinausgeht, war wenig Platz. Es war eine konservative Welt, in der man nur schwer Alternativen und Neues denken konnte. Fantasie war nichts, was zählte, Neugier eines Menschen wurde mit Skepsis begegnet. Die Angst im ungesicherten Leben saß allen tief in den Knochen.

Wie hast du es geschafft, neugierig zu sein?

Das war ein zäher Weg. Man musste ja auch das Wünschen lernen, später das Zweifeln. In mir wuchsen Wünsche nach dem Lernen, nach Büchern, nach Musik.

Bist du deshalb als 22-Jähriger ins Kloster gegangen?

Wir lebten in der Zeit des Wirtschaftswunders. Die Menschen und die Autos wurden dicker. Es gab kaum eine Erwähnung der Nazizeit oder gar eine Auseinandersetzung mit ihr. Das Kloster war für mich ein Ort erlaubter Weltflucht. Wir haben dort einen Platz für unsere Wünsche gefunden: ein einfaches Leben, befreit von den Überflüssigkeiten, die Zusammenarbeit mit Menschen gleicher Wünsche und gleicher Gesinnung.

Das einfache Leben …

… hat mich wohl am meisten angezogen. Nichts Opulentes, morgens eine Scheibe Brot mit Marmelade, gelegentlich ein Glas Wein oder eine Flasche Bier. Nichts war grenzenlos, und das gab einen Rahmen von Freiheit, um denken zu können, gemeinsam mit anderen. Pier Paolo Pasolini sagte einmal den schönen Satz, überflüssige Dinge machen das Leben überflüssig.

Ein Kloster, ein Aussteigerdomizil: Ist man als Klosterangehöriger nicht auch uniformiert?

Ja, die Mönche waren nicht nur sie selbst, sie waren auch Typen. Man war von der Last frei, immer man selbst sein zu müssen, eine Chance und eine Gefahr gerade für junge Menschen. Diese typisierte Gruppe war übrigens der Ort für viele Originale.

Hattest du kein Heimweh nach deiner saarländischen Welt?

Nein, ich habe gesehen, was zerbrechen musste an dieser Welt, weil sie sich überlebt hat und weil sie viele Menschen zu Opfern gemacht hat.

War im Kloster, in der Kirche der Nationalsozialismus ein Thema?

In den Kirchen wie in fast allen Institutionen wurde über die Nazizeit zunächst geschwiegen. Aber dann wurden die kirchlichen Orte, die Kirchentage, die Akademien, die Orden Stellen der besonderen und stetigen Aufmerksamkeit für das Thema. Aus dieser Zeit kam ich 1962 erstmals nach Israel.

Was hattest du erwartet – und was dort erfahren über die deutsche Schuld?

Ich hatte in Israel sehr rasch Freunde und Freundinnen. Über deutsche Schuld hat man wenig gesprochen. Aber ich sah sie leibhaftig an den Menschen. Da war der Freund, so alt wie ich, der mit zehn Jahren nach Auschwitz kam. Da war der schwule Lehrer, der 1944 monatelang mit einer Jugendgruppe versteckt war, bis sie in die Schweiz entkommen konnten. Ich erlebte nicht nur ihre Wunden. Ich erlebte auch ihren Hunger nach der alten Kultur. Die Menschen sparten, um die Matthäuspassion in der Nähe von Jerusalem zu hören. Sie machten lange Wege, um eine Aufführung von Schillers „Wilhelm Tell“ zu erleben. Bei vielen war eine merkwürdige Sehnsucht nach einem Land, das sie verjagt hatte!

Mit dem Sechstagekrieg 1967 orientierte sich die internationale Linke um – hin zu einer Kritik an Israel und seiner Politik gegenüber den Palästinensern. Hast du das mitvollziehen wollen?

Ich habe Israel geliebt und habe erst langsam das Leiden der Palästinenser in den Blick bekommen. So lernte ich beinahe widerwillig, dass die Linken mit ihrer Kritik an Israel recht hatten. Was mich damals jedoch störte, bei einigen linken Gruppierungen, war die Geläufigkeit dieser Kritik. Ich denke zum Beispiel an die Evangelischen Studentengemeinden. Sie waren fast alle links. Das ehrte sie. Aber es war an der Tagesordnung, israelkritisch zu ein.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Und die Kufiya, das palästinensische Halstuch, zu tragen wurde Mode.

Ja. Mit der jüdischen Kippa haben sich nur wenige in die Gruppen und Veranstaltungen der Studentengemeinden getraut. Israelfreundliche Gruppen ­haben diese Haltung leichtfertig „antisemitisch“ genannt. Aber bemerkenswert war schon, worauf die Studierenden vorrangig aufmerksam wurden. Übrigens, und das nicht nur nebenbei, ist es auch leichtfertig, wie oft der Titel „antisemitisch“ vergeben wurde und wird.

Wir sind jetzt in der Zeit nach dem 7. Oktober, den Massakern der Hamas an Israel. Welche Vision hättest du, denkst du heute an Israel?

Das große Wort Visionen kommt einem heute nur schwer über die Lippen. Aber wo einem die Hoffnung abhandenkommt, kann man wenigstens so tun, als hoffte man. Vielleicht ist auch dies eine Form der Hoffnung. Unseren Trost und unsere Unerbittlichkeit brauchen die verfeindeten Gruppen. Sie brauchen beide die Schärfe unserer Kritik. Sie brauchen in gleicher Weise unsere Hilfe.

Ich möchte mit dir auch über die Kirche sprechen. In den sechziger Jahren hast du Dorothee Sölle kennengelernt, eine der prominentesten evangelischen Theologinnen ihrer Zeit, die ihr Christsein ausdrücklich und öffentlich bekundet politisch verstand – ganz im Geist der Achtundsechziger. Nicht allen war euer Furor auf Kirchentagen und in den Gemeinden sympathisch.

Wir waren jung und im Aufbruch, vielleicht manchmal zu selbstbewusst. Wir sind leider nicht als abgeklärte Greise zur Welt gekommen. Wir mussten lernen, wir mussten unsere Irrtümer begehen und aus ihnen klüger werden. Wir waren fasziniert von den Fehlern unserer Kirchen – und wir haben verkannt, welche Schönheit in ihr zu entdecken war. Ich bin stolz auf die Streite, die wir ausgefochten haben. Aber wir hatten unsere Fehler, und wir waren noch nicht klug genug, diese zu erkennen und zu benennen.

Was heißt das konkret?

Sprechen wir über das Gebet. Viele der linken Freundinnen und Freunde hatten es damit schwer.

Was hatten sie an Gebeten auszusetzen?

Viele glaubten, dass ein Gebet von der politischen Handlung ablenkt oder sie ersetzt. Aber sie konnten die Schönheit und die Poesie dieser Akte nicht schätzen. So kam es in unseren Politischen Nachtgebeten in Köln immer wieder zu Auseinandersetzungen über das Gebet, mit der Hauptfrage: Was nützt es? Aber man kann eine poetische Schönheit nicht nach ihrem Nutzen befragen, ebenso wenig wie ich bei einem Kuss fragen kann, was sein Nutzen ist.

Und heute, welche Kirche wünschst du dir?

Keine, aus der heraus ein Petersdom geschaffen würde. Ich wünsche mir eine Kirche, die Einfluss will, aber auf Macht verzichtet; eine Kirche, die sich nicht gegen andere positioniert, sondern die Mitspielerin ist im großen Spiel um die Gerechtigkeit und Freiheit; eine Kirche, die fähig ist, den Namen Gottes zu nennen und auszulegen.

Die katholische Kirche steht ja in der öffentlichen Kritik, seit einigen Tagen verstärkt auch die evangelische Kirche, Stichwort sexueller Missbrauch.

Ich weiß darum, selbstverständlich. Alle Untaten müssen aus dem Zwielicht ins Licht gerückt werden. Aber meine Sorge ist, dass vor allem der Katholizismus nur noch mit Missbrauch verbunden wird. Katholizismus ist reich an Symbolen, Geschichten, an Gesten und gemeinschaftsstiftenden Bildern – das soll nicht unterschlagen werden.

Der Einfluss der Kirchen hat stark abgenommen.

Wäre ich jünger, viel jünger, würde ich diesen Befund als Chance nehmen, als Gnade, sich auf seine Wurzeln zu besinnen. Es ist Zeit, dass Christen und Christinnen sich besinnen auf die Schönheit und den Reichtum im eigenen Haus. Es gibt nicht viele Gruppen, die so etwas wie die Bergpredigt im Gepäck haben. Diese Kirche braucht keine Arroganz, aber sie braucht Stolz.

Du meinst Katholiken und Protestanten?

Fragt man mich, welchen Unterschied es zwischen Katholischem und Evangelischem gibt, würde ich antworten: Ich sehe keinen, ich weigere mich, die angeblich wichtigen Details stärker zu machen, als sie für die einzelnen Christen und Christinnen sein können.

Was bleibt dir, bald hoffentlich 91 Jahre, zu sagen?

Ich habe es aufgegeben, mich zu durchschauen.

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