Reisen als mentale Horizonterweiterung: In einem anderen Erzählkosmos

Die lohnendsten Reisen sind jene, die einen lehren, dass die eigenen nationalen Narrative nur ein Ausschnitt der Wahrheit sind.

Ein schlafender Passagier in einem Zug

Region Twer, Russland, Februar 2019: schlafender Reisender Foto: Maxim Shemetov/reuters

Wir stehen 2019 in einem Panzermuseum in der russischen Provinz. Unser Freund S. kennt sie alle. „Woher?“, frage ich, dabei weiß ich von den Militärparaden, der Tarnkleidungsmode, den Spielzeugpanzern in Kinderzimmern. „Hier schaut man wahrscheinlich anders auf Krieg als bei euch“, sagt S., für den Krieg vor allem Sieg über das Böse bedeutet. „Ist das Thema okay für euch, wo ihr doch verloren habt?“, fragt er besorgt. Wir lachen.

Heute hat sich der deutsche Blick auf Krieg dem russischen angenähert. Heute glaubt man auch hier, Staaten töteten für Ideale und das Gute. Heute könnten wir dieses Gespräch nicht mehr so führen.

Manchmal versteht man Reisen in der Rückschau besser. Ein Hörsaal in Sankt Petersburg 2012. „Demokratie funktioniert nicht in Russland“, sagt der Dozent. „Das Imperium würde auseinanderbrechen.“ Damals war ich überrascht. Oder 2019, eine Wohnung in Russland. Meine Freundin N., eine sehr sanfte Person, tadelt ihren weinenden Sohn: „Bist du ein Mädchen?!“ Aber natürlich ist auch das eine selektive Diashow, kuratiert für ein bestimmtes Ergebnis. Alles, was diesen Kosmos so groß macht – die Einladungen von Fremden, die Wärme und Großzügigkeit, die ehrlichen Gespräche, der Humor –, habe ich rausgeschnitten.

Verstehen, kontextualisieren, das ist hierzulande unter Verdacht geraten. Dabei sind die lohnendsten Reisen jene in einen anderen Erzählkosmos. Sie lehren, dass die eigenen nationalen Narrative nur ein Ausschnitt der Wahrheit sind. Dass eigene Propaganda oft subtil funktioniert und man die Welt anderswo ganz anders erzählt. Das ist herausfordernd.

Manche Reisende werden zu naiven Gläubigen des anderen Erzählkosmos. „Wir bräuchten für Frieden Medien ohne nationale Anbindung“, schreibe ich N. in diesem Herbst. Sie antwortet etwas und löscht es, bevor ich es lesen kann. Wir diskutieren jetzt oft über den Ukraine-Krieg. Oft repliziert sie Regimepropaganda. Und manchmal erzählt sie, die Verwandte im Osten der Ukraine hat, vom Teil der Geschichte, der hier kaum erzählt wird: von Leuten, die sich von Russland wirtschaftlichen Aufschwung erhoffen, die der Westukraine misstrauen, die sich vor ukrainischen Truppen fürchten statt vor den russischen. Wer nur einen Erzählkosmos kennt, hat nur ein halbes Bild.

Früher hat N. die Diktatur im eigenen Land pointiert kritisiert. Heute ist Russland für sie immer das Opfer und Europa schon lange kein Vorbild mehr. Die Isolation des Landes gilt in Deutschland als moralisch und richtig. Ich fürchte, sie wird andere Folgen haben als die gewünschten. Das mentale Fotoalbum dieser Reise bleibt unfertig.

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Jahrgang 1991, studierte Journalismus und Geschichte in Dortmund, Bochum, Sankt Petersburg. Schreibt für die taz seit 2015 vor allem über politische und gesellschaftliche Sportthemen zum Beispiel im Fußball und übers Reisen. 2018 erschien ihr Buch "Wir sind der Verein" über fangeführte Fußballklubs in Europa. Erzählt von Reisebegegnungen auch auf www.nosunsets.de

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