Neue Steine für die Festung Europa

Die EU-Institutionen einigen sich auf eine Verschärfung des Asylrechts. Wenige Monate vor der Europawahl stehen die Zeichen weiter auf Abschottung

Zuvor auf dem Mittelmeer gerettete Menschen steigen im Oktober in der italienischen Hafenstadt Salerno in einen Bus. Zukünftig soll sich der Zugang zum europäischen Asylsystem für Geflüchtete ändern Foto: Ivan Romano/getty images

Aus Brüssel Eric Bonse

Sechs Monate vor der Europawahl haben sich Unterhändler des Europaparlaments, der Mitgliedstaaten und der EU-Kommission auf eine umstrittene Reform der Asylpolitik geeinigt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einer „historischen Einigung“.

Mit dem Deal, der am Mittwochmorgen nach zweitägigen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen in Brüssel vereinbart wurde, will die EU die „irreguläre“ Migration eindämmen, aber auch Rechtspopulismus einen Riegel vorschieben. Kritiker sagen, sie übernehme damit die Politik der Rechten und vergreife sich am Asylrecht.

Künftig sollen Asylverfahren bereits an den EU-Außengrenzen stattfinden, um Flüchtlinge mit geringen Aufnahmechancen an der Weiterreise zu hindern. Für die Grenzverfahren sollen geschlossene Lager geschaffen werden, betroffen sind auch Familien mit Kindern.

Die Bundesregierung wollte begleitete Kinder aus humanitären Gründen von den Grenzverfahren ausnehmen, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Staaten mit besonders hohem „Migrationsdruck“, wie Italien oder Griechenland, hatten auf den harten Regeln bestanden.

Auf Drängen der osteuropäischen Staaten wurde zudem eine Krisenverordnung beschlossen, mit der die Regeln weiter verschärft werden können. Sie soll greifen, wenn Migranten „instrumentalisiert“ werden. Dies hat die EU zunächst der Türkei, zuletzt auch Russland vorgeworfen.

Mit den neuen Regeln, die auch eine lückenlose Erfassung der Migranten und Abschiebungen in „sichere Drittstaaten“ vorsehen, werde eine Lücke geschlossen, sagte Kommissionsvize Margaritis Schinas. Nach der Coronakrise und dem Ukrainekrieg stelle sich die EU nun auch der Migration.

Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einem „ganz wichtigen“ Beschluss. Die Reform sei ein Schlüssel, „um Migration zu steuern und zu ordnen, humanitäre Standards für Geflüchtete zu schützen und die irreguläre Migration zu begrenzen“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Scholz und Faeser hatten im Frühsommer den Weg für eine Einigung frei gemacht. Sie nahmen ihre Vorbehalte gegen die nun beschlossenen Grenzverfahren weitgehend zurück, sodass sich die EU-Innenminister auf eine gemeinsame Position einigen und in die Verhandlungen gehen konnten.

Seither ruhten alle Hoffnungen auf dem Europaparlament. Die EU-Abgeordneten sollten verhindern, dass auch Kinder in geschlossene Lager geschickt werden, hieß es in Berlin. Dies war vor allem den deutschen Grünen wichtig, die die Reform lange abgelehnt haben. Doch am Ende zog das Parlament den Kürzeren. Selbst in der Fraktion der Grünen unterstützten nicht alle den deutschen Wunsch. Eine große Koalition aus Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen gab in Brüssel den Ton an, auch die rechtskonservative EKR mischte eifrig mit.

Die Abgeordneten konnten zwar noch einige kleine Verbesserungen durchsetzen. So sollen alle Asylbewerber, die in ein ordentliches Verfahren kommen, einen Anspruch auf Rechtsberatung bekommen. Unbegleiteten Kindern will die EU mit einer besonderen Betreuung helfen.

Als Erfolg gilt auch, dass ein sogenannter Solidaritätsmechanismus eingeführt wird. „Erstmals werden nun die EU-Mitgliedstaaten zu Solidarität verpflichtet“, sagt Außenministerin Annalena Baerbock. „Damit steigen wir endlich in eine europäische Verteilung ein.“

Allerdings können sich unwillige Staaten von der Aufnahme von Migranten freikaufen, indem sie 20.000 Euro pro Kopf als „Kompensation“ in die EU-Kasse zahlen. Zudem sollen auch andere „Leistungen“, etwa Unterstützung beim Migrationsmanagement in Drittstaaten, angerechnet werden.

Somit bleibt fraglich, ob die Reform tatsächlich mehr Solidarität bringt. Grüne und Linke fürchten, dass die EU-Staaten am Ende mehr in Abschottung investieren, anstatt mehr Migranten aufzunehmen. Die „Festung Europa“ könnte so noch hermetischer werden. „Die Reform wird nicht das gewünschte Ergebnis bringen“, warnt die Europaabgeordnete Terry Reintke von den Grünen. Stattdessen würden Grenzverfahren und Inhaftierung „großes menschliches Leid und immense Probleme bei der Umsetzbarkeit für die Mitgliedstaaten“ mit sich bringen.

Konservative, Sozialdemokraten und Liberale gaben den Ton an, auch die rechtskonservative EKR mischte mit

„Der heutige Tag ist ein historischer Kniefall vor den Rechtspopulisten in der EU“, sagt Cornelia Ernst von der Linken. Das Parlament sei „zum Fußabtreter der Mitgliedstaaten“ geworden und habe „die massivste Verschärfung des Asylrechts seit Gründung der EU“ ermöglicht.

Die Abgeordneten hätten den Deal zwar noch platzen lassen können. Bis zur Europawahl bleibt genug Zeit, EU-Gesetze können noch bis Mitte März verabschiedet werden. Doch am Ende wurde der Druck wohl zu groß. Der spanische Ratsvorsitz wollte unbedingt einen Deal vor Weihnachten. Nun können die EU-Politiker Vollzug melden und die „frohe Botschaft“ über die Einigung unter die Bürger bringen. Ob sie die gewünschte Wirkung bei der Europawahl zeigt, ist jedoch fraglich. Von einem Konsens ist die EU immer noch weit entfernt; Ungarn hat schon Widerstand angekündigt.

Zudem dürfte noch einige Zeit vergehen, bis die Reform tatsächlich greift. Die insgesamt fünf Verordnungen treten nämlich erst 24 Monate nach der noch fehlenden Verabschiedung im Frühjahr 2024 in Kraft – also nicht vor 2026. Dann ist die Europawahl längst gelaufen.

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