Abriegelung während Coronaquarantäne: Bewohner fordern Schmerzensgeld

Während der Coronapandemie wurde ein Wohnblock in Göttingen rechtswidrig abgeriegelt. Nun verlangen 78 Familien Entschädigung von der Stadt.

Polizisten stehen vor einem unter Quarantäne gestellten Wohngebäude in der Göttinger Innenstadt

Umzäunt und von der Polizei bewacht: Eine Woche lang waren die rund 700 Bewohner des Komplexes im Sommer 2020 quasi eingesperrt Foto: Swen Pförtner/dpa

GÖTTINGEN taz | 223 Bewohner eines Hochhauskomplexes verklagen die Stadtverwaltung Göttingen vor dem Landgericht wegen Freiheitsentziehung und Verletzung des Persönlichkeitsrechts auf Schmerzensgeld. Während der Coronapandemie hatte diese das Wohnhaus mehrtägig komplett absperren und umzäunen lassen. Schon im November hatte das Göttinger Verwaltungsgericht (VG) dieses Vorgehen für rechtswidrig erklärt. Nun wollen die Betroffenen entschädigt werden.

Die Betroffenen aus 78 Familien begehren eine Summe von insgesamt mehr als 880.000 Euro, wie der Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam mitteilt. Er hatte zuvor das VG-Urteil erstritten, das bundesweit Aufsehen erregt hatte.

„Die betroffenen Familien haben wegen der offensichtlich rechtswidrigen Freiheitsentziehung und der tiefgreifenden Persönlichkeitsrechtsverletzung einen Anspruch auf Schmerzensgeld gegen die Stadt Göttingen aus dem sogenannten Amtshaftungsanspruch“, begründet Anwalt Adam die neuerliche Klage.

Bei der Höhe ihrer Forderung berufen sich die Kläger auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu rechtswidrigen Freiheitsentziehungen, demnach seien mindestens 50 Euro je Person und Stunde der Freiheitsentziehung angemessen.

700 Menschen unter prekären Bedingungen

Im Dezember hatte Adam die Stadt zunächst außergerichtlich aufgefordert, das Schmerzensgeld zu zahlen oder in außergerichtliche Vergleichsverhandlungen einzutreten. Hierauf habe die Kommune aber nicht reagiert, so dass die Klagen wegen drohender Verjährung bis zum 31. Dezember erhoben werden mussten.

Dass der Anspruch der ohnehin marginalisierten Menschen nicht bereits außergerichtlich befriedigt worden sei und die Familien in die Klagen gezwungen würden, sei eine „finanzpolitische Taktiererei“, ärgert sich Adam.

Der Wohnkomplex gilt als Problemimmobilie und sozialer Brennpunkt. Rund 700 Menschen, darunter 200 Kinder und Jugendliche, leben dort unter prekären Bedingungen. Für die meisten der nur 19 bis 39 Quadratmeter kleinen Appartements zahlt die Stadt Göttingen die Miete, weil die Bewohner auf Transferleistungen angewiesen sind.

Klagen über schlechte Versorgung

Nachdem sich im Juni 2020 zwei Frauen mit dem Coronavirus infiziert hatten, ordnete die Stadt Tests für alle Bewohner an, 120 Menschen wurden positiv getestet. Um eine weitere Ausbreitung zu verhindern, stellte die Stadt den Komplex unter Quarantäne, eine Woche lang blieben die Bewohner quasi eingesperrt.

Die Eingänge zum Grundstück wurden abgesperrt und mit Toren verschlossen. Lieferwagen brachten Lebensmittel und Hygieneartikel, das Rote Kreuz und die Johanniter betrieben auf dem Gelände eine mobile Sanitätsstation. Aus Sicht vieler Bewohner funktionierte die Versorgung schlecht, es gab Klagen über zu wenig Essen.

„Was uns von der Stadt gegeben wird, sind ein paar Äpfel und abgelaufene Chips“, sagte damals eine Frau. Der evangelische Pfarrer und damalige Grünen-Ratsherr Thomas Harms sprach von einem „verschärften Arrest“ für 700 Personen und stellte die Frage, ob eine solche Maßnahme wohl auch in den besseren Wohnvierteln der Stadt angeordnet worden wäre.

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