Untergrund mit Selfies

Nach der Festnahme der früheren RAF-Terroristin Daniela Klette geht die Suche nach ihren Weggefährten weiter. Angesichts Klettes relativ offenen Lebens stellen sich Fragen

Ein Fahndungsplakat des BKA Wiesbaden 1993 sucht Mitglieder der dritten Generation der RAF   Foto: ullstein

Von Anne Fromm
und Konrad Litschko

Corinna Melcher (Name geändert) ist auch am Mittwoch noch perplex. „Ich kann das immer noch nicht glauben.“ Jahrelang habe sie mit Claudia Capoeira getanzt, in einem kleinen Kreuzberger Verein. Ihre Mitstreiterin habe Kurse für Kinder gegeben, man sei sogar zu Auftritten nach Frankreich oder Brasilien geflogen. Bei den Gesprächen mit Claudia sei nie etwas Extremistisches gefallen, berichtet Melcher. Der Verein setze sich für kulturellen Austausch und gegen Rassismus ein. „Man denkt, man kennt jemanden, und dann das.“

Denn seit Montagabend ist klar: „Claudia“ war Daniela Klette, die frühere RAF-Terroristin. Seit 30 Jahren wurde sie von Ermittlungsbehörden gesucht, zusammen mit ihren Weggefährten Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg. Bis heute ermittelt die Bundesanwaltschaft gegen das Trio, zuletzt jagte es die Staatsanwaltschaft Verden, weil die Untergetauchten von 1999 bis 2016 noch sechs Raubüberfälle in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen verübt haben sollen. Maximal 150.000 Euro Belohnung sind für Hinweise ausgelobt. Doch bis Montagabend half das alles nichts.

Dann erfolgte Klettes Festnahme mitten in der Hauptstadt, ausgerechnet in Kreuzberg, dem traditionell linksalternativen Stadtteil. Im November hatte das LKA Niedersachsen nach eigener Auskunft einen Hinweis aus der Bevölkerung auf die Wohnung bekommen, diese danach observiert. Zielfahnder klopften am Montagabend dann an die Tür. Und Klette ließ sich widerstandslos festnehmen. Über Fingerabdrücke wurde die 65-Jährige laut Polizei zweifelsfrei identifiziert.

Es war das Ende einer beispiellosen Jagd. Klette, Garweg und Staub sollen zur dritten und letzten Generation der RAF gehören – über welche die Ermittler bis heute nicht wissen, wer genau alles dazu gehörte. Die Gruppe verübte etwa die Morde an Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen und Treuhand-Chef Detlev Rohwedder. Klette selbst werden drei Anschläge vorgeworfen: 1990 auf die Deutsche Bank in Eschborn, ein Jahr später auf die US-Botschaft in Bad Godesberg und 1993 auf die im Bau befindliche JVA Weiterstadt.

Klettes Festnahme wurde von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bejubelt. Auch Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD) sprach von einem „Meisterstück“. Aber kann man das wirklich so sagen? Denn offenbar wohnte Klette seit vielen Jahren in Kreuzberg – und kaum versteckt.

Noch am Mittwoch sperren Polizeibeamte das graue, siebenstöckige Mietshaus in Kreuzberg ab, in dem Klette zuletzt wohnte. Kol­le­g*in­nen sichern in ihrer Wohnung jede Spur. Tags zuvor hatten auch Nachbarn Jour­na­lis­t*in­nen berichtet, dass die Festgenomme sich „Claudia“ genannt habe. Dass sie schon viele Jahre im Haus lebte, unauffällig freundlich, Nachhilfe habe sie gegeben.

Wie sicher sich Klette offenbar fühlte, zeigen ihre Aktivitäten im örtlichen Capoeira-Verein. Deren Chef und Vortänzer will sich nicht äußern. Aber Mitstreiterin Corinna Melcher berichtet, dass „Claudia“ schon dabei gewesen sei, als sich die Gruppe vor gut zehn Jahren zusammenfand. Was „Claudia“ sonst noch so mache, da habe sie nie so genau nachgefragt. Ihr Geld bekomme sie vom Jobcenter, soll sie erzählt haben. „Das ist ja noch nichts Besonderes.“ Am Ende, vor rund vier Jahren, habe „Claudia“ dann aber den Verein verlassen. Es habe zwischenmenschlich nicht mehr gepasst, sagt Melcher. „Nichts Dramatisches.“

Zumindest hier in Kreuzberg hatte sich Klette also nicht versteckt. Für ihren Capoeiraverein trat sie auch nach außen hin öffentlich auf. Im Sommer 2018 veranstaltete sie im Namen des Vereins ein Infotreffen für Interessierte in einem Neuköllner Kulturzentrum mit. Auf einem Foto von diesem Tag ist sie zu sehen, untergehakt mit anderen Frauen. Ihre langen, grauen Haare sind zum Zopf gebunden, fast schüchtern schaut sie in die Kamera. Alle Anwesenden würde die „herzliche und schöne Atmosphäre in Erinnerung“ bleiben, steht über dem Bild.

Laut Welt tanzte Klette im Jahr 2011 auch auf dem jährlichem „Karneval der Kulturen“. Fotos zeigen sie in einem weiß-gelben Kleid und mit Stirnband, inmitten einer großen Menge. Sie muss sich sehr sicher gefühlt haben in Berlin.

Und auch sonst war Klette nicht übermäßig vorsichtig. Auch heute noch, zwei Tage nach der Festnahme, finden sich von Klette zahlreiche Spuren im Internet. Seit 2011 betrieb sie ein Profil auf Facebook, unter ihrem Pseudonym „Claudia Ivone“. Dort postete sie vor allem Werbung für ihren Capoeiraverein und Fotos von Pflanzen, Wäldern, Seen. Man sieht sie in bunter Pluderhose in einem Kreis sitzen und mit anderen musizieren. Ein anderes Bild zeigt sie untergehakt mit jungen Leuten auf einer Capoeira-Veranstaltung. Der letzte Beitrag stammt von Anfang 2023: Blumen in den Berliner Prinzessinnengärten – nur wenige hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt.

Viel Resonanz erfuhr sie nicht auf ihrem Profil, nur Hin und Wieder ein Daumen Hoch für eines ihrer Fotos. Politisch hat sie sich bei Facebook nie geäußert. Einen Hinweis darauf, wo sie politisch steht, gibt nur die Liste der Vereine und Gruppen, die Klette likt: brasilianische Künstler*innen, aber auch Bündnisse und Vereine, die sich gegen Rassismus engagieren, und die taz.

Historisch zählt man drei verschiedene Generationen von RAF-Terrorist*innen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Ideologie, Zielsetzung und Praxis. Die erste Generation (1970-1975) umfasste unter anderem Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin. Eine zweite Generation um Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar gründete sich 1976 nach der Festnahme der ersten Generation.

Als Startpunkt der dritten Generation gilt das Jahr 1982 und der Strategiewechsel hin zu einer Internationalisierung des Terrorismus. Der Journalist und RAF-Experte Stefan Aust sagte am Dienstagabend im ZDF-„heute journal“, die zweite Generation habe versucht, die erste aus dem Gefängnis zu befreien. „Als das nicht funktioniert hat, gab es dann die dritte Generation, und die haben eines getan, nämlich schlichtweg Morde begangen. Sie haben Leute einfach erschossen oder haben ihnen Fallen gestellt.“

Bekannte Morde beging die dritte Generation unter anderem 1986 an dem Diplomaten Gerold von Braunmühl, 1989 an dem Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen und 1991 an dem Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder. Mehr als 30 Morde werden der RAF insgesamt zugeschrieben, viele von ihnen gelten bis heute als nicht aufgeklärt. (taz, dpa)

Am Ende war ihr auch ein Podcast-Team auf den Fersen. Im Dezember 2023 erschien bei der ARD der zweiteiliger Podcast „Legion“ der Podcast-Firma Undone. In zwei Teilen spürt das Team dem Gerücht hinterher, Daniela Klette lebe unbemerkt in einer deutschen Großstadt. Die Ma­che­r*in­nen kommen Klette tatsächlich auf die Spur – mit Hilfe von Bilderkennungssoftware im Internet. Sie stoßen auf die Bilder Klettes bei dem Berliner Capoeira-Verein. Dort erfahren die Jour­na­lis­t*in­nen dann ebenfalls, dass Klette seit Jahren nicht mehr aktiv sei. Finden können sie Klette schließlich nicht. „Aber heute wissen wir, dass wir ziemlich nah an ihr dran waren“, sagt Patrick Stegemann, der den Podcast mitproduziert hat.

Wie kann es sein, dass Jour­na­lis­t*in­nen eine untergetauchte Terroristin fast finden, die Polizei in mehreren Jahrzehnten Ermittlungsarbeit aber nicht? Und war es womöglich die Podcast-Recherche, die im November den entscheidenden Anstoß bei der Polizei gab und jetzt zur Ergreifung von Klette führte? Stegemann, der Podcast-Produzent, kann dazu nichts sagen, auch die Staatsanwaltschaft Verden wollte sich am Mittwoch nicht äußern.

Ob Klette auch noch Kontakt in die linke Szene hielt, blieb vorerst offen. Die gebürtige Karlsruherin war in den 70ern Teil der Anti-Nato-Bewegung und Roten Hilfe. In den Untergrund soll sie 1989 gegangen sein – kurz nach dem Herrhausen-Attentat. Die Szenesolidarität bleibt vorerst überschaubar. In Hamburg hisste am Mittwoch die Rote Flora ein Solidaritätsbanner. „Viel Kraft und Lebensfreude, lasst es euch gut gehen!“, schrieb der Solidaritätsverein Rote Hilfe schon 2016 in seiner Mitgliederzeitung. Bundesvorständin Anja Sommerfeld nennt die Festnahme Klettes das Ergebnis einer „jahrzehntelangen Verfolgungswut“ und eines „staatlichen Rachebedürfnis“. Es sei zu befürchten, dass in dem neuerlichen RAF-Verfahren „sämtliche rechtsstaatliche Standards außer Kraft gesetzt werden, um eine möglichst hohe Haftstrafe zu erreichen und Reuebekundungen zu erpressen“.

Tatsächlich droht Klette, die nun in der JVA Vechta sitzen soll, eine mehrjährige Haft. Da bei den Raubüberfällen auch Schüsse fielen, laufen die Ermittlungen hier auch wegen versuchten Mordes. Als politisch motiviert sah die Staatsanwaltschaft diese Taten nicht mehr, dennoch wiegen die Delikte schwer. Die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ist zwar verjährt, nicht aber die Vorwürfe zu den Anschlägen in Eschborn, Bad Bodesberg und Weiterstadt, bei denen jeweils DNA von Klette gefunden wurde. Personen wurden damals nicht verletzt, dennoch prüft die Bundesanwaltschaft, ob auch sie noch einen Haftbefehl gegen Klette verhängt.

Bei Facebook postete Klette vor allem Werbung für ihren Capoeira-Verein und Fotos von Pflanzen, Wäldern, Seen

Weiter auf der Flucht sind Garweg und Staub. Noch am Dienstag hatte das LKA die Hoffnungen, einen der beiden erwischt zu haben, ein weiterer Mann wurde in Berlin festgenommen. Vom LKA hieß es am Mittwochmorgen dazu, der Betroffene sei „zweifelsfrei“ nicht Garweg oder Staub und wieder freigelassen. Nachmittags vermeldeten Medien eine weitere Festnahme im RAF-Fall – die Staatsanwaltschaft wollte sich dazu nicht äußern. Doch auch hier kein Treffer: „Es wird weiter nach den zwei Gesuchten gefahndet“, erklärte eine LKA-Sprecherin.

Schon im Dezember hatte die Staatsanwaltschaft Verden nochmal Familienangehörige und vermeintliche frühere Bekannte des RAF-Trios zu Befragungen geladen. Zuletzt wurde der Fall auch über die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY…ungelöst“ ausgestrahlt, 250 Hinweise erfolgten im Anschluss.

Die Ermittler hoffen jetzt aber vor allem auf Hinweise von der Festnahme und aus der Wohnung von Klette. Bisher wurden dort etwa zwei Magazine und Munition beschlagnahmt, aber keine Waffe. Eine könnte wohl sagen, wo Staub und Garweg sind: Aber Daniela Klette schweigt bisher.

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