Suizidhilfe und Psychodiagnosen: Urteilsfähigkeit wird geprüft

Die Zahl der Suizidhilfen steigt. 2023 waren es 419 Fälle über die DGHS. Sie leistet Hilfen auch für Sterbewillige mit psychiatrischer Diagnose.

Symbolbild fuer Sterbehilfe

Sterbehilfe ist in Deutschland ein umstrittenes Thema Foto: Detlef Heese/epd/imago

BERLIN taz | Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) vermittelte im vergangenen Jahr 419 sogenannte „Freitodbegleitungen“. Im Jahre 2022 waren es noch 229 Fälle gewesen. Insgesamt, also zusammen mit den beiden anderen Organisationen Dignitas und Sterbehilfe Deutschland, geht DGHS-Präsident Robert Roßbruch von rund 1.000 Fällen von Suizidhilfe im Jahre 2023 aus. Die steigenden Zahlen seien „kein Dammbruch“, wie von Gegnern der Suizidhilfe befürchtet, sagte Roßbruch am Dienstag.

Vor dem Hintergrund zweier Strafprozesse, die derzeit gegen Ärzte laufen oder liefen, die psychisch schwer Erkrankten beim Suizid halfen, nahm Roßbruch zu den Gutachterverfahren Stellung, die Menschen mit psychiatrischer Vorerkrankung durchlaufen müssen, bevor sie von der DGHS Hilfe zur Selbsttötung bekommen.

Die beiden Ärzte hatten früher auch über die DGHS vermittelt Menschen beim Suizid geholfen. In den Fällen, die zur Anklage standen oder noch stehen, handelten sie allerdings auf Eigeninitiative ohne Rücksprache mit der DGHS. Beide Ärzte wurden wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft angeklagt, einer ist bereits verurteilt.

Bei den 419 Fällen der durch die DGHS vermittelten Suizidhilfe seien „nur wenige Personen“ dabeigewesen, die ein psychiatrisches Leiden als „primären Beweggrund hatten“, sagte Roßbruch. In diesen Fällen würden bei Prüfung der Unterlagen „ergänzende fachärztliche Stellungnahmen zur Bedingung gemacht, die das Vorhandensein der Urteils- und Entscheidungsfähigkeit“ bestätigen, erklärte der Verbandspräsident.

Das Vier-Augen-Prinzip

Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil zur Freigabe der Suizidhilfe unter anderem zur Vorgabe gemacht, dass die Sterbewilligen „freiverantwortlich“ und unbeeinflusst von einer „akuten psychischen Störung“ handeln müssten.

Roßbruch verwies auf das „doppelte Vier-Augen-Prinzip“, dass bei der DGHS herrsche. Mit­ar­bei­te­r:in­nen in der Geschäftsstelle schätzen dabei die Motivlage und die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit der Sterbewilligen anhand der eingereichten Unterlagen ein. Dann kommen eine Ju­ris­t:in und eine Ärz­t:in noch jeweils zu einem Gespräch zur Kli­en­t:in nach Hause. An einem zweiten Termin findet dann die Freitodbegleitung durch diese beiden Personen statt. Die Suizidwilligen müssen mindestens sechs Monate Mitglied bei der DGHS gewesen sein.

Bei einer vorliegenden psychiatrischen Diagnose reiche es in vielen Fällen aus, wenn der behandelnde Facharzt für Psychiatrie die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit seines Patienten bestätige, so Roßbruch. Die Sterbewilligen müssten dieses Attest dann bei der DGHS vorlegen. Auch psychisch erkrankte Menschen müssten ein Recht auf Selbstbestimmung haben, betonte der Verbandspräsident.

In einer Studie des Gesundheitsreferats in München über Suizidassistenzen der drei Sterbehilfeorganisationen hatten die Au­to­r:in­nen gerügt, dass auch bei Menschen mit psychiatrischen Vorerkrankungen Hilfe zur Selbsttötung geleistet wurde, ohne dass Gutachten über deren Urteils- und Entscheidungsfähigkeit vorlagen.

Differenzieren bei den Psychodiagnosen

Roßbruch kritisierte, dass die Münchner Stu­di­en­au­to­r:in­nen nicht differenziert hätten zwischen „psychiatrischen Diagnosen, die somatisch bedingt sind und jenen, die primär bedingt sind“. Bei vielen chronischen somatischen Erkrankungen stünde bei Haus- und Krankenhausärzten auch irgendwo die Diagnose Depression.„Aber das ist keine Primärdepression, sondern eine Depression, die sich ergeben hat aufgrund der somatischen Erkrankung. Damit ist die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit noch voll gegeben“, sagte der Verbandspräsident, der auch Medizinrechtsanwalt ist.

Von den Fällen der Suizidhilfe durch die DGHS-Ärzte gaben ein gutes Fünftel „Lebens-Sattheit“ als Motiv an. Ein weiteres gutes Fünftel litt an mehreren Krankheiten, ein Fünftel hatte Tumorerkrankungen, 15 Prozent litten unter neurologischen Erkrankungen wie etwa MS oder Parkinson.

Die allermeisten der Verstorbenen waren im hohen Alter, zwei Drittel waren Frauen. Bei den rund 10.000 Suiziden in Deutschland, mit denen sich Menschen ohne fremde Hilfe töten, sind hingegen zwei Drittel Männer.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.