Strukturelle Benachteiligung von Roma: Leben in der Sackgasse

Loloč Selimovič ist Rom und mittlerweile seit fast 30 Jahren in Deutschland. Er lebt im Flüchtlingsheim, genauso lang, seit fast 30 Jahren.

Loloč Selimovič vor dem eingeschossigen Gebäude seiner Unterkunft

Loloč Selimovič vor seiner Unterkunft Foto: Bernd Arnold

KÖLN taz | Das Flüchtlingsheim, in dem Loloč Selimovič seit 29 Jahren lebt, liegt im Niemandsland. Zwar braucht man von der Kölner Innenstadt nur 20 Minuten mit der Straßenbahn Linie 7 bis zur Haltestelle Baumschulenweg. Aber von dort geht es noch 10 Fußminuten weiter, an adretten Reihenhäusern vorbei, durch die Bahnunterführung, an Wiesen entlang bis zum Rand eines Industriegebiets. Der Eingang ist direkt neben einer Annahmestelle für Bauschutt und andere Abfälle.

Das Heim besteht aus vier Reihen mit eingeschossigen Fertigbaracken, die in Wohnungen mit kleinen Vorgärtchen unterteilt sind. Das Gelände ist umzäunt, der Sicherheitsdienst passt auf, dass kein Unbefugter reinkommt – und Besuch abends wieder geht.

„Es ist einsam wie im Wald, alles ist weit weg“, sagt Selimovič. Schon lange will er hier weg, Hunderte Bewerbungen hat er geschrieben, sich die Finger wund telefoniert. Alles umsonst.

Aktionstag: Der 8. April ist Internationaler Tag der Roma, ein weltweiter Aktionstag, der an die Anfänge der Emanzipation der Minderheit und den ersten Internationalen Roma-Kongress 1971 in London erinnert. In zahlreichen deutschen Städten wird an diesem Tag die Roma-Flagge vor den Rathäusern gehisst, so auch in Köln.

Meldestelle: Erst 2022 wurde eine bundesweite Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) eingerichtet. Betroffene können antiziganistische Vorfälle anonym melden, im ersten Jahr waren es 621 Fälle. „Für Sinti und Roma ist gesellschaftliche Ausgrenzung eine Alltagserfahrung, der sie bei der Wohnungssuche, am Arbeitsplatz, in der Schule und im täglichen Leben begegnen“, sagte der Vorsitzende des Zentralrats Romani Rose bei der Vorstellung des Berichts.

Spurensuche: Der Protagonist dieser Geschichte und die Autorin lernten sich vor 20 Jahren bei einem Projekt kennen, das die Verfolgung der Sinti und Roma von Köln als gemeinsame Geschichte von Roma, Deutschen und Türken erforschte. Höhepunkt der Spurensuche war eine Reise nach Auschwitz. Den Film zum Projekt kann man sich hier ansehen: dilight.nmartproject.net/holger-kiess.

1995 kamen die Selimovičs nach Köln, Loloč, genannt Lolo, war elf Jahre alt. Die Roma-Familie war Armut und Diskriminierung in ihrer Heimat Montenegro da schon sechs Jahre entflohen, doch auch die erste Station Italien hatte ihnen kein Glück gebracht.

In Köln wurden sie in das Heim am Poller Holzweg eingewiesen. „Damals war es noch eine große Baracke mit einem langen Gang, wo die Zimmer abgehen“, erinnert sich Lolo Selimovič. Küchen und Sanitärbereich hätten sich alle teilen müssen. „Das ist heute besser, wo jede Familie eine Wohnung mit Küche und Bad hat.“

Die Wohnküche der Selimovičs ist akkurat aufgeräumt, nichts Überflüssiges liegt herum. Lolos ältere Schwester Sladjana hat Getränke bereitgestellt, Lolo macht eine einladende Geste in Richtung der beiden schwarzen Couches. Der 39-Jährige lebt mit drei erwachsenen Geschwistern in zwei Wohnungen mit zusammen 90 Quadratmetern. Die Mutter starb vor langer Zeit, der Vater vor zwei Jahren. Lolo schläft in der Einzimmerwohnung, die anderen in der „großen“ Wohnung mit Wohnküche, Schlafzimmer, einer Abstellkammer, einem Bad. Das Schlafzimmer teilt sich Sladjana mit den Brüdern Elvis und Damian, beide sind von Geburt an schwer krank und pflegebedürftig.

Bis vor Kurzem wohnte auch die zweite Schwester Dragana hier, erst vor drei Wochen hat sie geheiratet und ist ausgezogen. „Das wird schwer für uns“, sagt Lolo Selimovič, weil die Pflege der Brüder jetzt auf ihm und Sladjana alleine lastet und die Miete der Heimwohnung auf weniger Personen umgelegt wird. 1.660 Euro warm verlangt die Stadt Köln seit Jahresanfang, Lolo Selimovič holt zum Beweis einen Brief, der die Erhöhung mitteilt. Weil er arbeitet, muss er seinen Anteil selbst zahlen, 280 Euro sind es bisher, nach Draganas Auszug wird es wohl mehr werden. Für die Geschwister zahlt das Jobcenter.

Die Sehnsucht nach Arbeit

Dass Lolo Selimovič Arbeit hat, sogar eine Festanstellung, macht ihn stolz. Er ist Maschinenführer und Gabelstaplerfahrer, seit sieben Jahren für dieselbe Firma, die Plastikgranulat sortiert. Diese Karriere war nicht abzusehen, als ihn die Reporterin vor 19 Jahren das erste Mal im Poller Holzweg besuchte. Damals hatte er – wie viele Roma-Flüchtlinge – nur eine Duldung ohne Arbeitserlaubnis. Das Leben des jungen Mannes bestand aus Langeweile, spazieren gehen und Sperrmüll absuchen – er wünschte sich nichts sehnlicher, als zu arbeiten.

Allerdings hatte er keine Ausbildung, Lesen und Schreiben konnte er nur schlecht, da er in Deutschland nie zur Schule gegangen war und vorher in Italien nur drei Jahre. Die Schulpflicht für Flüchtlingskinder gibt es in Nordrhein-Westfalen erst seit 2005, bis dahin haben sich die Behörden nicht wirklich gekümmert, dass Flüchtlinge ihre Kinder in Schulen anmelden. „Meine Eltern waren damals völlig überfordert“, sagt Selimovič.

Die Bleiberechtsregelung 2007 brachte die Gelegenheit, auf die er so lange gewartet hatte. Er bekam eine zweijährige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und damit Zeit zu beweisen, dass er sich selbst ernähren kann. „Die Chance habe ich gleich ergriffen“, erzählt er. Zuerst arbeitete er zwei Jahre als Reinigungskraft. Dann ging er zu einer Zeitarbeitsfirma und kam so zu seinem heutigen Arbeitgeber, der ihn nach vier Jahren fest übernahm und ihm den Gabelstaplerschein finanzierte.

Mit dem festen Job, erzählt Selimovič weiter, habe er sich endlich um eine Niederlassungserlaubnis bewerben können. „Ganz leicht haben sie es mir aber nicht gemacht, auch einen Sprachkurs auf B1-Niveau musste ich abschließen.“ Stressig sei es gewesen, abends neben der Arbeit sechs Monate lang Kurse zu besuchen, aber es habe auch Spaß gemacht – Schule war für ihn ja eine neue Erfahrung. „Ich konnte besser Deutsch sprechen als viele. Das war schön, dass ich anderen etwas zeigen konnte.“

Nur mit der eigenen Wohnung will es nicht klappen. Seit sechs Jahren bemühen sie sich, erzählt Selimovič. Bei der GAG sind sie vorstellig geworden, Kölns städtischer Wohnungsgesellschaft, ebenso bei Vonovia, dem größten Privatvermieter der Stadt. Sie waren beim „Auszugsmanagement“ der Stadt, das in private Wohnungen vermitteln soll, haben sich einen Wohnberechtigungsschein für Sozialwohnungen besorgt, schauen regelmäßig bei Immoscout und anderen Vermittlungsbörsen. „Aber es gibt einfach keine Wohnungen“, sagt Selimovič – und wie viele glaubt auch er, dass es etwas mit den „vielen Flüchtlingen“ zu tun hat. „Erst kamen die Syrer, dann die Ukrainer, alle Häuser sind voll.“

Besonders schwierig bei Sozialwohnungen

Bei der Roma-Selbstorganisation Rom e. V. haben sie eine andere Erklärung. Der Verein residiert auf einem weitläufigen Gelände nahe des Fernsehturms in der Innenstadt, es gibt mehrere Gebäude für Beratungs- und Bildungsangebote, Spiel- und Sportmöglichkeiten, einen Jugendtreff. Vorstandsmitglied Ruźdija Sejdovic nimmt kein Blatt vor den Mund. „Fast kein Vermieter will Roma als Mieter“, sagt er, das wisse er aus eigener Erfahrung und aus der Beratungsarbeit. Besonders schwierig sei es bei den Sozialwohnungen, von denen es ohnehin viel zu wenig gebe: „Die Stadt hat Belegwohnungen bei GAG und Vonovia, aber sie hat nur ein Vorschlagsrecht – und beide Vermieter lehnen Roma sehr oft ab.“

Vorstandskollege Ossi Helling sieht das genauso: „Selbst Roma mit festem Aufenthaltsstatus haben kaum Chancen auf dem Wohnungsmarkt, eher vermietet man an syrische oder iranische Geflüchtete.“ Der Kölner Wohnungsmarkt sei sowieso sehr angespannt. „Für die Roma ist gute Integration in den Heimen fast aussichtslos“, sagt Helling.

Als die Rede auf den Poller Holzweg kommt, wird Sejdovic sarkastisch. „Viele Roma dort fühlen sich wie in einem Getto abgetrennt.“ Fast alle Bewohner seien Angehörige der Minderheit – und in dieser Abgeschiedenheit Menschen unterzubringen, „ist nach so vielen Jahren sehr inhuman“.

Struktureller Rassismus

Auch Helling spricht von „strukturellem Rassismus gegenüber den Bewohnern dieses Heims“, das auch kein ausreichendes WLAN hat. Seit drei Jahren gebe es darum Diskussionen, erzählt Helling, denn die Stadt habe sich verpflichtet, „entsprechend den EU-Normen“ Internetzugang zu schaffen, aber das sei wegen der Abgeschiedenheit sehr teuer. Anfang Januar erklärte die Verwaltung auf eine schriftliche Anfrage des Integrationsrates, weil man das Heim noch mindestens 10 bis 15 Jahre nutzen werde, lohne sich die Investition von 150 bis 180.000 Euro für „optimiertes Internet“ tatsächlich. In einem Jahr könnte es so weit sein.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Lolo Selimovič hat sich mit dem schlechten WLAN arrangiert, er hat einen Handyvertrag – mit seinem Job kann er sich den leisten. Dass er als Rom bei der Wohnungssuche diskriminiert wird, kann er sich eigentlich nicht vorstellen. „Ich sage ja niemandem, dass wir Roma sind, ich sage, wir sind aus Montenegro“, erwidert er. Warum er das macht, weiß er ganz genau. „Wenn ich sagen würde, wir sind Roma, wäre die Wohnung ja gleich weg. Viele Menschen denken schlecht über uns.“

Und so wie sich Lolo Selimovič angewöhnt hat, sein Roma-Sein gegenüber den Gadje – Nicht-Roma – zu verstecken, so hat er sich im Laufe der Jahre an die Schikanen gewöhnt, die ein Leben im Flüchtlingsheim mit sich bringt. An die Polizeieinsätze, wenn jemand abgeschoben werden soll, an die Razzien bei Nacht, wenn Beamte die Wohnungen stürmen und alles durchsuchen. Wonach sie suchen, weiß Selimovič nicht.

Normal ist es für ihn auch, dass die Sicherheitsleute des Heims einfach in die Wohnung kommen, etwa um zu sagen, dass ein Besuch gehen müsse, weil ab 22 Uhr Nachtruhe sei. Dass das in der eigenen Wohnung anders ist, kann er kaum glauben. „Man muss den Vermieter nicht fragen, wenn ein Freund bei einem übernachten will?“

Woher soll man das wissen, wenn man sein Leben lang im Heim lebt.

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