Deutsche Beihilfe zum „Risiko Genozid“?

Wegen fortgesetzter Unterstützung Israels klagt Nicaragua Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof an. Es geht um Beihilfe zum Völkermord

Den Adel verpflichtet: Die Bundes­republik wird in Den Haag von Tania Freiin von Uslar-­Gleichen vertreten, die Anklage führt für Nicaragua der Franzose Alain Pellet   Foto: Patrick Post/dpa

Aus Den Haag Tobias Müller

Deutschland ermögliche einen Völkermord an den Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen im Gazastreifen und werde seiner Verpflichtung nicht gerecht, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Völkermord zu verhindern. Dies ist der Kern einer Klage, die Nicaragua im März am Internationalen Gerichtshof (IGH) gegen die Bundesrepublik einreichte. Dazu werden Ad-hoc-Maßnahmen gegen Deutschland gefordert, um die Unterstützung für Israel sofort einzustellen. Am Montag begannen in Den Haag die Anhörungen.

Die Klage basiert auf der generellen Verpflichtung Deutschlands als Unterzeichnerin der UN-Konvention zur Verhinderung und Prävention von Genozid. Hinzu kommt in diesem spezifischen Fall die „politische, finanzielle und militärische“ Unterstützung Israels während des Kriegs im Gazastreifen. Diese stelle „ein anerkanntes Risiko von Genozid gegen das palästinensische Volk“ dar – ein Verweis auf das Zwischenurteil des IGH im Januar im Fall der südafrikanischen Völkermord-Klage gegen Israel.

Seit diesem Fall ist die internationale Justiz ein bedeutender Schauplatz des Nahostkriegs geworden. Bis zu einem Urteil des IGH können Jahre vergehen. Für die akute Situation ist darum die Ebene der Ad-hoc-Maßnahmen wichtiger. So verfügte der Gerichtshof im Januar, Israel müsse Schritte ergreifen, um einen Genozid zu verhindern und die humanitäre Lage im Gaza­streifen zu verbessern. Ende März lautete ein weiterer Beschluss, Israel müsse mehr tun, um die drastische humanitäre Situation zu verbessern.

Nach Berichten niederländischer Medien sind inzwischen 7 der 15 Rich­te­r*in­nen dafür, einen sofortigen Waffenstillstand zu verfügen – ein Schritt, der im Januar noch nicht für nötig erachtet wurde. Die bevorstehende Offensive in Rafah könnte einen solchen Schritt wahrscheinlich machen. Die Beschlüsse des IGH sind bindend, allerdings verfügt er über keine Autorität, diese umzusetzen. Sie zeigen aber: Der Druck auf Israel steigt.

Das zeigte auch die Kundgebung vor dem Gerichtshof am Montag. Zwar waren diesmal nur wenige Dutzend De­mons­tran­t*in­nen anwesend, doch die Schilder waren unübersehbar, auf denen Südafrika, Nicaragua und Kolumbien für ihren „Mut“ gedankt wurde. Auch Kolumbien erklärte letzte Woche, die Genozid-Klage gegen Israel zu unterstützen. Deutschland sprach sich im Januar gegen die südafrikanische Initiative aus und bot an Israel in Den Haag als Drittpartei zu unterstützen.

Auf die besondere Beziehung Deutschlands zu Israel referierte am Montag nicht nur das „Never again is now“-Spanntuch der Demonstrant*innen. Auch Carlos Argüello Gómez, der Vertreter Nicaraguas am IGH, bezog sich auf die „Staatsräson“ der deutschen Unterstützung für Israel. Diese sei vor dem Hintergrund der Geschichte verständlich, doch würde hier das jüdische Volk mit dem Staat Israel verwechselt.

Für Argüello Gómez, der die Delegation Nicaraguas anführte, war bereits klar, dass im Gazastreifen „ernsthafte Verstöße gegen das Völkerrecht einschließlich eines Genozids“ stattfänden, wie „wahrscheinlich die Mehrheit der Weltbevölkerung in den Nachrichten und sozialen Medien gesehen“ hätte. Alain Pellet, emeritierter Juraprofessor der Universität Paris Nanterre, der Nicaragua als Anwalt vertritt, äußerte sich differenzierter: Die Verpflichtung, Genozid zu verhindern, gelte nicht erst, wenn dieser bereits begonnen habe – „das wäre absurd, denn es geht ja um Prävention“. Er berief sich auf das „ernsthafte Risiko“ eines Völkermords, das der Gerichtshof im Januar festgestellt habe.

Nicaragua prangert vor allem die Waffenexporte nach Israel an

Pellet unterstrich mehrfach, man werfe Deutschland nicht vor, selbst Völkermord zu begehen. Wohl aber werde die Bundesrepublik ihren vertraglichen Verpflichtungen nicht gerecht, diesen zu verhindern. Der Rechtsanwalt Daniel Müller, ebenso Teil der Delegation, prangerte vor allem die fortgesetzten Waffenexporte nach Israel an. Deutschland ist laut einem aktuellen Bericht Israels zweitgrößter Waffenlieferant. Exportlizenzen müssten ausgesetzt werden, wenn es Hinweise gäbe, dass militärische Ausrüstung eingesetzt würde, um gegen das Völkerrecht zu verstoßen. Das gelte auch im Kampf gegen Terroristen. Das Ziel, diese zu besiegen, rechtfertige nicht das Leiden des palästinensischen Volks.

Müller rief den Gerichtshof angesichts der „katastrophalen humanitären Situation in Gaza“ zu Sofortmaßnahmen auf. Neben dem sofortigen Einstellen der militärischen Unterstützung müsse Deutschland auch die ausgesetzte Finanzierung des UNRWA-Hilfswerks wieder aufnehmen. Die Anhörung der deutschen Delegation ist für Dienstag terminiert.

inland