Finnland, du hast es besser

300 Teilnehmer aus aller Welt finden bei der ultimativen „Warum Finnland?“-Konferenz das Geheimnis des Pisa-Siegers: Liebe und Jari Andersson

HELSINKI taz ■ Die gute Nachricht für Pisa-Kritiker und all jene, die vom Vorbild Finnland genervt sind, ist diese: Man kann sitzen bleiben im modernsten Schulsystem der Welt. „Manchmal empfehlen wir einem Schüler, ein Jahr noch mal zu machen“, sagt Jari Andersson, Rektor der Sylvää-Schule. Das ist neu. Bisher lernte man vom Meisterschüler der weltweiten Pisa-Schulvergleiche, dass kein Kind beschämt wird, keines eine Ehrenrunde drehen muss.

Die schlechte Nachricht für Pisa-Kritikaster: Das Fünf-Millionen-Land hat pädagogisch immer noch mehr zu bieten, als man nach der x-ten Bildungsreise dorthin vermutet hatte. Schließlich hat Finnland sich, wie der Pisa-Chef der OECD, Andreas Schleicher, berichtete, nach dem ersten Pisa-Test weiter zielgerichtet verbessert.

Die über 300 internationalen Teilnehmer der ultimativen Pisa-Konferenz unter dem Motto „Warum Finnland?“, die seit Montag in Helsinki Nachforschungen treibt, wurden bereits nach den ersten Vorträgen unruhig. „Was ist das Geheimnis, dass Finnland für seine Lehrerstudien die besten der besten Studenten auswählen kann?“, fragt der britische Schulaufsichtsbeamte. „Hat Polen das finnische System kopiert?“, erkundigt sich ein osteuropäischer Teilnehmer und will wissen, warum Polen in nur drei Jahren eine so steilen Kompetenzzuwachs bei seinen Schülern zu verzeichnen hat.

Das Mirakel Finnland ist kompliziert. Und doch so einfach zu erklären. „Es braucht jemanden, der den Schülern Grenzen setzt – und sich doch um sie kümmert“, sagt Rektor Andersson, der ganz anders ist, als es sich alle Finnland-Fans erträumt haben. Andersson sieht ein bisschen aus wie der Lehrer Lämpel, ein schlaksiger Kerl mit verschlafenem Blick – und unverkennbar autoritären Zügen. „Ich bin die Wand, das müssen die Schüler, die Lehrer und die Eltern wissen, an mir kommt keiner vorbei.“

Trotzdem ist er anders. Andersson ist 34 Jahre jung. Als er Leiter seiner Schule wurde, war er der jüngste Rektor Finnlands. Wenn er von seinen knapp 600 Schülern spricht, verwendet er das Wort Liebe. Tatsächlich. Und meint es ernst. Das sagt mehr als tausend Konferenzen mit schlauen OECD-Experten und pädagogischen Forschern.

Anderssons Schule hat eine Schülerfürsorge eingerichtet, die anderswo auf der Welt unvorstellbar ist: Schulschwänzerprogramm, Fürsorgekommission, systematische Nachhilfe. Wenn ein Schüler nachhängt, bekommt er sofort Förderunterricht, das ist überall in Finnland so. Andersson aber schickt notfalls den Nachhilfelehrer nach Hause, damit er dem Schüler hilft. „Manchmal kann ein Schüler nicht in die Schule kommen, das kommt vor.“

In der Schule gibt es auch einen Wohlfahrtsausschuss, der –trotz der Vorliebe Anderssons für Richelieu – nichts mit Revolution zu tun hat: Er kümmert sich um alle sozialen Fragen, die sich rund ums Lernen an der Sylvää-Schule auftun. Wozu der Aufwand? „Schule ist mehr, als Unterricht zu erteilen.“

Der junge Rektor hat den Ältesten aus seiner Lehrerschaft, einen Pauker, den er selbst noch als Schüler erlebt hat, in den Vorruhestand geleitet. Aber er hat noch keinen Schüler von der Schule geschmissen. „Wir dürfen keinen Schüler zurücklassen“, sagt Andersson.

In seiner Schule übrigens bleiben 3 bis 4 Schüler pro Jahr sitzen. In Deutschland, so weiß es die Schulstatistik, erleiden ein solches gravierendes Misserfolgserlebnis ein Viertel der Schüler. Glückliches Finnland. CHRISTIAN FÜLLER