Der Schiri, der hat immer Recht

Der Berliner Club BFC Dynamo wurde zehnmal DDR-Fußballmeister – mit freundlicher Unterstützung von Stasi-Chef Erich Mielke. Ein Buch offenbart, wie der Sozialismus auf Fußballplätzen Einfluss nahm

„Schiebermeister BFC, das befahl die SED“, so ein Schlachtruf gegnerischer Fans

VON OLIVER VOSS

Von der Strafraumgrenze zog BFC-Jungstar Andreas Thom ab, der Ball knallte an die Latte. Nur eine Szene des Sturmlaufs von DDR-Meister BFC Dynamo. Die Berliner stürmten, scheiterten aber immer wieder. Es war der achtzehnte Spieltag der Oberligasaison 1985/86, als die Berliner in Leipzig antreten mussten. Bereits seit der zweiten Spielminute führte Lokomotive Leipzig. In der 80. Minute wurde der Kapitän des Platzes verwiesen, da er zu früh aus der Freistoßmauer gelaufen war. Doch Leipzig hielt den Vorsprung bis zum Ende der regulären Spielzeit. Aber Schiedsrichter Stumpf pfiff nicht – bis zur 95. Minute: Elfmeter für den BFC. Ausgleich. 1:1.

Diese Episode in Leipzig gibt nur ein Beispiel für den Einfluss, den die SED und das Ministerium für Staatsicherheit (MfS) auf den Fußball in der DDR ausübten. Hanns Leske hat diese Rolle der Politik in einer Dissertation untersucht und nun in dem Buch „Erich Mielke, die Stasi und das runde Leder“ veröffentlicht.

Der „Schandelfmeter“ am 22. März 1986 war ein unrühmlicher Höhepunkt von politisch motivierten Manipulationen in den Stadien. Doch nach jahrelanger Bevorteilung des Polizeisportclubs BFC Dynamo war in Leipzig das Fass übergelaufen.

„Ich habe nach dem Spiel gesagt, ich höre heute mit dem Fußballspielen auf, ich habe die Schnauze voll“, erklärte der Leipziger und Nationaltorwart René Müller. Der Reporter Wolfgang Hempel hatte berichtet, dass offensichtlich gespielt würde, bis noch ein Punkt für den BFC gesichert ist, und die Junge Welt schrieb danach, dass die „unbegreifliche Strafstoßentscheidung dem Ruf unseres Meisters BFC schadet“.

Eine Sensation in einem Land, wo selbst Kritik an fragwürdigen Schiedsrichterentscheidungen öffentlich kaum möglich war. Der Deutsche Fußball Verband (DFV) beschäftigte sich mit dem Spiel und zog Konsequenzen, die Egon Krenz und Erich Honecker im ZK der SED persönlich bestätigten. „Sportfreund Stumpf“ wurde die Pfeifberechtigung für die Oberliga entzogen und die gesamte Schiedsrichterkommission neu gebildet. Daraufhin kamen nicht immer dieselben Schiedsrichter zum BFC, sondern beispielsweise auch Siegfried Kirschen, der damals beste Unparteiische der DDR.

Politische Einflussnahme gab es besonders in der Anfangszeit des DDR-Fußballs. 1953 durfte etwa Schlusslicht VfB Pankow aus politischen Gründen im Oberhaus bleiben – die Hauptstadt brauchte Fußball dringender als Weimar, dessen Mannschaft als Drittletzter abstieg.

Eine systematische Bevorteilung Berlins nahm ihren Anfang. In der Saison 1954/55 wurde der amtierende Meister Dynamo Dresden in der laufenden Saison nach Ostberlin delegiert. Auf dem vierten Tabellenplatz tauchte so das vorher nicht existierende Team SC Dynamo Berlin auf. 1966 wurde aus dem Klub der BFC Dynamo, dessen sportliche Leistungen anfangs freilich dürftig waren. Der BFC stieg bald aus der Oberliga ab.

Zwei Jahre später gab es die ersten belegten Manipulationsversuche. In einem Untersuchungsbericht des MfS zum Aufstiegsspiel SG Dynamo Schwerin – BFC Dynamo heißt es, der Schweriner Klubvorsitzende Hofmann und Trainer Seyfert „nahmen vor dem Spiel Einfluss auf die ältesten Stammspieler mit dem Hinweis, dass SG Dynamo Schwerin nicht unbedingt gewinnen muss und das Ziel Aufstieg des BFC in die Oberliga heißt“. Eine Beeinflussung aller Spieler sei wegen des mangelhaften „politisch-ideologischen Zustandes in der Mannschaft“ nicht möglich gewesen, die sich für das 0:4 im Hinspiel revanchieren wollte. Die Partie endete 2:1 für den BFC. In den Stasi-Unterlagen zum anschließenden „rowdyhaften Benehmen der Zuschauer“ kommen Volkspolizisten zu Wort: „Das Spiel war eine einzige Schweinerei“, der Schiedsrichter ein „Provokateur in Sportkleidung“.

Unter dem Namen „Dynamo“ liefen die sportlichen Abteilungen des Innenministeriums, also die Vereine von Polizei und MfS, auf. Vorsitzender der gesamten Sportvereinigung Dynamo war Stasi-Chef Erich Mielke, der somit gleichzeitig über die Erzrivalen Dynamo Dresden und BFC Dynamo herrschte. Doch Mielke hatte den BFC zu seinem Hobby gemacht und erklärte 1978 bei der dritten Dresdener Titelfeier in Folge, leider sei die falsche Dynamo-Mannschaft Meister geworden. Im nächsten Jahr holte der BFC den Titel und wurde daraufhin von 1979 bis 1988 zehn Mal nacheinander DDR-Meister. Ein weltweit einmaliger Rekord.

Der BFC hatte materiell die besten Voraussetzungen und mit Stars wie Andreas Thom und Thomas Doll auch das mit Abstand beste Team. Dass bei den Siegen manches nicht mit rechten Dingen zuging, zeigen zahlreiche Beschwerden und Eingaben – beim Fußballverband und dem ZK der SED. So schrieb ein Akademiker, dass er als Vorsitzender des Wohnbezirksausschusses der Nationalen Front immer wieder auf Schiedsrichterleistungen bei BFC-Spielen angesprochen werde: „Sehr geehrter Genosse Honecker! Da wir es uns nicht erlauben können, dass solche Dinge als Zündstoff zum Aufputschen unserer Jugend und schließlich zum Misstrauen gegenüber unserem Zentralkomitee ausarten, bitte ich Dich, Untersuchungen zu veranlassen und dafür zu sorgen, dass es bei uns in der Republik auch auf dem Gebiete des Sportes wieder sauber zugeht.“

Beschwerden dieser Art häuften sich, und in der Saison 1984/85 stellte der Fußballverband eine Untersuchung zur „Problematik der Schiedsrichterleistungen“ an. Die Studie zeigt eine direkte Bevorteilung des Meisters in zehn Spielen: „Klare Abseitstore des BFC wurden anerkannt, eindeutige Elfmeter den gegnerischen Mannschaften verweigert, korrekte Tore des Gegners nicht gegeben.“ Ein besonders drastisches Beispiel gab es beim 1:1 zwischen Aue und dem BFC. „Das 2:1-Siegtor von Aue fand wegen Abseits keine Anerkennung. Diese Fehlentscheidung war so offensichtlich, dass diese Szene in der Sport-Aktuell-Sendung nicht gezeigt werden konnte.“

Über viele plumpe Fehlentscheidungen empörte sich die ganze Republik, daher gingen die Schiedsrichter dazu über, indirekt für den BFC zu pfeifen. So wurden nach Angaben der DFV-Untersuchung die härtesten Konkurrenten, Dynamo Dresden und Lok Leipzig, zusammen in 8 Begegnungen benachteiligt. Als besonders subtile Taktik zur Schwächung der Konkurrenten „erhielten wichtige Leistungsträger in ihrer letzten Begegnung vor dem Spiel gegen den BFC ihre 3. bzw. 6. Verwarnung“. Die Statistik ist eindeutig: 16 gelben Karten für den BFC standen 45 für Dynamo Dresden gegenüber.

Der BFC war „die wohl unbeliebteste Meistermannschaft, die es je in einem Land gegeben hat“, schreibt Autor Hanns Leske. „Wir grüßen den DDR-Meister und seine Schiedsrichter“, lauteten Spruchbänder, mit denen die Berliner in fremden Stadien empfangen wurden. Regelmäßig schallte es ihnen dort hasserfüllt entgegen: „Schiebermeister BFC, das befahl die SED.“ Doch selbst daheim erfreute sich der Dauermeister geringer Beliebtheit. Stadtrivale Union lockte oft mehr Fans in die Alte Försterei, selbst im eigenen Stadion gingen während der zehnjährigen Dominanz die Zuschauerzahlen kontinuierlich nach unten. Von 15.000 auf 9.000 sank die durchschnittliche Besucherzahl, eine Ursache war auch die Kontrolle der Fans durch die Stasi.

Zu Pokalspielen im westlichen Ausland durften nur systemtreue „Touristendelegationen“, manche dieser „Fans“ sahen zum ersten Mal ein Fußballspiel live. Bei Heimspielen, die im Fernsehen übertragen wurden, befürchtete man unliebsame Äußerungen im Stadion. Zu oft hatte die Stasi den „negativ-dekadenten“ Anhang des 1. FC Union bei Freistößen „Die Mauer muss weg“ skandieren hören.

Zur Vorbeugung wurden 1982 beim Europacupspiel BFC – HSV fast alle Eintrittskarten an Mitarbeiter von MfS und Volkspolizei ausgegeben. Damit die „Fans“ nicht allzu sehr auffielen, hieß es in der Dienstanweisung: „Die Bekleidung ist entsprechend dem Charakter einer Sportveranstaltung zu wählen. Die Mitnahme von Taschen und ähnlichen Behältnissen ist unzweckmäßig.“

Die Spieler zeigten sich über die Vorteile, die dem BFC durch manchen Schiedsrichter eingeräumt wurden, nicht nur erfreut. Torwart Bodo Rudwaleit sagt: „Nach einem verschossenen Elfmeter bin ich mal über das ganze Feld zum Schützen Rainer Ernst gerannt und habe gesagt: Gut, dass du ihn verschossen hast!“

Die Begünstigungen, die den Schützlingen Erich Mielkes zuteil wurden, wirkten sich auch auf die internationale Leistungsfähigkeit aus. Im Europapokal scheiterte der BFC immer in den ersten Runden. „Sie waren in der Oberliga zu wenig gefordert, vor allen Dingen jedoch durch die Hilfe der Schiedsrichter geschützt“, schreibt Hanns Leske. „Auf internationalem Parkett konnten sie ohne die gewohnten Hilfen dann in kritischen Situationen nicht überzeugen.“

Hanns Leske. „Erich Mielke, die Stasi und das runde Leder“. Verlag Die Werkstatt. ISBN 3-89533-448-0