Wenn die Schule Zirkus macht

Am Aachener Viktoria-Gymnasium arbeitet ein Pädagoge, der nur Zirkus gibt – als Schulfach. Die Schüler sind mit Hingabe dabei, „um zu lernen, nicht um zu können“. Zwei Dutzend der 10- bis 14-Jährigen treten beim echten Roncalli auf – und die Schule entdeckt die Alternative zur 45-Minuten-Stunde

aus Aachen BERND MÜLLENDER

„Trapez ist wirklich sauschwer“, weiß Krenne Aymans, „aber ganz klar der Hit. Da würdest du manche Kinder auch nach zehn Tagen nicht wieder runterkriegen.“ Karen und Lena aus Klasse 7 versuchen es heute das erste Mal. Und haben Probleme. „Das ist im Prinzip wie ein Wackelreck“, sagt der Freizeitpädagoge und Zirkuslehrer Aymans (45), „da kriegt ihr den Aufschwung doch auch hin.“ Die beiden versuchen es noch mal. Doch trotz Hilfen – die Beine wollen nicht auf die taumelnde Stange. So ein Trapez wackelt aber auch arg.

Drumherum kurvt fast ein Dutzend Schüler auf dem Einrad durch die große Sporthalle, eine thront stolz auf dem Hochrad, andere suchen das Gleichgewicht auf den teuflischen Wackelbrettern, lassen Jonglierteller kreisen, Keulen fliegen und wirbeln sich Diabolos zu. „Krenne, was ist Wheelwalk?“, will eine Schülerin wissen, „und Cowboysprung? Lernen wir das heute?“ – „Nee, heute machen die Kleinen die große Pyramide.“ Die Fünftklässler sausen in den Nebenraum, zwei Dutzend Matten aufbauen. Dann bauen sie sich selbst gen Himmel. Und versuchen zu lächeln, vor allem die starken Hänflinge, die ganz unten das Fundament der Pyramide bilden.

Jeden Nachmittag wird das Viktoria-Gymnasium zur Übungs-Manege. Insgesamt 200 der 800 Schüler machen mit. „Die meisten“, sagt Kursleiter Aymans, „fangen gleich in der 5 an. Und immerhin jeder Fünfte ist bis zum Abi dabei.“ Krenne Aymanns – eigentlich Franz-Josef, „aber so will doch niemand heißen“ – ist fest angestellter Freizeitpädagoge der Schule. „Der einzige wahrscheinlich in ganz Deutschland“, sagt er. Nirgends sonst leistet sich ein Gymnasium einen Lehrer, und das seit 14 Jahren, der nur Zirkus macht.

Nachsitzen gewünscht

Alle sind mit Feuereifer dabei. Und betteln um Nachsitzen: „Krenne, dürfen wir eine Stunde länger bleiben?“, fragt eine. Auch die Sporthalle wundert sich, dass mal niemand um Bälle bettelt. Robin (11) zum Beispiel trägt den Trainingsanzug eines Aachener Fußballclubs. „Zirkus mache ich lieber, ganz klar. Fußball ist immer das Gleiche. Und man muss so viel rennen.“ Dann lieber Balllaufen auf der schmalen Holzbank und rein in die Pyramide. Nachher blutet sein dicker Zeh. „Nicht schlimm. Bin irgendwo hängen geblieben.“

Was auf den ersten Blick niedlich klingt, bekommt aus Pädagogensicht einen ernsten Hintergrund: „Schüler erleben Schule endlich mal positiv“, sagt Aymans, „das ist ein Stück Jugendarbeit nicht irgendwo, sondern direkt an der Schule. Für manche ist das tageweise freiwillige Ganztagsschule. Die haben von halb vier bis fünf Uhr ihre Zirkus-AG, stehen aber schon um 2 Uhr vor der Tür und bleiben danach länger.“ Viele sagen morgens nicht: Scheiße, wieder Schule. Sondern: Toll, heute ist Schule! Heute ist Zirkus!

Philipp will „immer neue Tricks lernen“. Nele findet „Balllaufen so schön außergewöhnlich“. Johanna möchte „Leute zum Lachen und Staunen bringen“. Isabella kann sich sogar „Akrobatik als Beruf“ vorstellen. Auch wenn man im Zirkus immer herumreisen muss: „Mein Vater ist Maschinenbauingenieur. Der war jahrelang auch immer woanders.“ Und die stolze Hochradfahrerin Pia (12) sagt ganz unbefangen: „Ich geh so gern hier hin, um zu lernen, nicht um zu können.“

Aymans macht den Job seit fast 14 Jahren. 1989 war er einer von vielen arbeitslosen Lehrern (Sport und Geschichte) und wirkte (was er heute noch tut) in der Aachener Akrobatik- und Kabarettgruppe „Grautvornix“ mit. Er wollte gerade selbst in Brüssel eine große Zirkusschule besuchen: „Ich saß quasi schon im Zug, da kam der Anruf vom Arbeitsamt: Zwei Jahre AB-Maßnahme, Freizeitpädagogik. Wie wär’s?“

Der damalige Rektor der Viktoria-Schule hatte, so Aymans, nur gesagt: „Machen Sie, was Sie wollen. Hauptsache, es ist gut.“ Die Schüler waren sofort begeistert, Zirkus eine total neue Welt für sie. „Die haben in der Klasse jongliert“, erzählt Aymans, „manche auf der Toilette, überall. Nach einem Jahr haben wir mit einer Gruppe schon ein paar Straßenauftritte gemacht, auch eine Tournee zur Kieler Woche.“

Dann waren die zwei Jahre Arbeitsbeschaffung vorbei. Der Zirkusmann sollte gehen. Die Schüler sammelten Unterschriften, veranstalteten Demonstrationen auf dem Schulhof – alles für ihren Lehrer. Doch wer soll den bezahlen? Die evangelische Kirche, Trägerin der Viktoria-Schule, winkte ab.

Erstaunliches passierte: Die Kollegenschaft sammelte, bis die Hälfte der Stelle gesichert war. Nach langen Verhandlungen übernahm die evangelische Kirche die andere Hälfte, seit dem Jahr 2000 zahlt sie den Trainer sogar ganz. „Die hatten gemerkt, welch gutes Image der Zirkus gibt – ein neues Profil“, sagt Aymans.

Jonglieren, Akrobatik und Einradfahren sind nicht irgendein schöner Freizeitspaß. „Gerade Zirkus bringt ungeheuer viel für den sozialen Frieden. Alle haben zusammen das gleiche Ziel, mal für sich, mal in der Gruppe. Da nimmt Konkurrenzdenken ab“, sagt Aymans mit Nachdruck. Was andere Lehrer bestätigen: Sie berichten, man merke in den Klassen sofort, wer Zirkusschüler ist. Die entwickelten ein ganz anderes Sozial- und Teamverhalten, mehr Kompromissfähigkeit.

Schulleiter Axel Schneider (48) geht noch einen Schritt weiter: „Durch den Zirkus wird Schule zu einem Stück Heimat. Die Schüler machen immer etwas, sind in Bewegung. Wenn sie wegen irgendwas frustriert sind oder in anderen Fächern nicht so berauschend ist – ab in die Sporthalle zum eignen großen Auftritt.“ Zu den Zirkus-AGs gehört auch, dass ältere Schüler ab Klasse 11 ein kleines Helfer-Netzwerk für den Unterricht der Kleinen aufgebaut haben. Und sie kriegen Nebenjobs. „Kleine Karrieren“, nennt Aymans das, wenn sie „für ein bisschen Geld“ auch allein Zirkus-Workshops in Bildungseinrichtungen oder Pfarrheimen machen. Und Lernen kann schnell gehen. Manche Mädchen bewegen sich schon nach zwei Nachmittagen passabel auf dem Einrad. Die zehnjährige Franca kommt mit dem eigenen Rad manchmal zur Schule und findet es „toll, dass die Leute so doof gucken und immer die gleichen blöden Sprüche machen: Dein Lenkrad ist weg! Oder: Hast du kein Geld für ein zweites Rad?“

Einkauf mit dem Einrad

Hannah erledigt damit „auch das Einkaufen. Geht gut mit einem Rucksack.“ Tabea kichert: „Neulich hat ein älterer Mann so doof hinter mir hergeguckt – und ist voll gegen einen Laternenmast gelaufen.“

Erkennbar sind nicht alle Bewegungstalente. „Viele Schüler sagen, ich kann keinen Sport. Da mach ich lieber Zirkus“, sagt Aymans, „und ich versuche zu inspirieren, Motivation freizulegen. Und man sieht: Jeder kann irgendwas.“ Mittlerweile geht das auch umgekehrt. Aymans muss neuerdings auch neun Stunden normalen Sportunterricht geben. Die 23 Wochenstunden Zirkus sind geblieben. „Pflicht wären 24,5 Stunden, aber ich kann doch nicht die Kinder allein lassen.“ Also siebeneinhalb Stunden unbezahlte Arbeit. „Die Schüler inspirieren und motivieren mich ja auch.“

Seit Wochen ist der Viktoria-Zirkus sowieso Rund-um-die-Uhr-Programm. Erst hatten „die Großen“ zwischen 14 und 19, wie alle drei Jahre, Mitte März ihren großen Auftritt: drei Abendvorstellungen in der riesigen Aula „Circus Configurani: Piraten – von Halunken und Spelunken“. Aymans sagt, in manchen Nächten sei er nach vier Stunden Schlaf „um halb sechs wach geworden und hab nur noch über die Nummern nachgedacht: Wie man was noch besser machen kann.“

Die Aula war vorher wochenlang komplett besetzt gewesen, ein großes Lager aus Kisten von Requisiten und Kostümbergen. Fast alles – Sketche, Übungen, Bühnenbild, Ausstattung – war selbst gemacht, besorgt und ausgedacht. Aymans: „Delegieren kann jeder, etwa Kostümnähen an die Eltern. Wenn die Schüler das aber selbst in die Hand nehmen, identifizieren sie sich mehr und kriegen ein Extra an Selbstvertrauen. Und das“, sagt der Pädagoge im lustigen Zirkuslehrer, „macht sie nur stärker.“

Dann drei Stunden beifallumrauschtes Programm; rührend, erstaunlich gut, witzig und auch selbstironisch, als der Hühnerbrüstigste, Michael (14), den Mut aufbrachte, den mächtigen Schatzinsel-Häuptling Chongawonga zu mimen. Einer jonglierte spektakulär im Dunkeln mit fünf Bällen, die Lokalpresse ließ die Akrobatik-Gruppen zu „gewaltigen Menschentürmen bis unters Auladach“ anwachsen. Kurios, dass an zwei Abenden die gleiche Panne passierte. Katja (17) krachte bei einer Massenjonglage rücklings in die große Schatztruhe, holte sich ein paar blaue Flecken und bat: „Krenne, können wir die Kiste nicht mal auspolstern?“

Ab morgen wird es noch aufregender. Da treten zwei Dutzend der Kleinsten (10–14 Jahre) an insgesamt 30 Abenden für je zehn Minuten im Programm des echten, berühmten Zirkus „Roncalli“ auf, der im Moment mit seinem Winterprogramm in Aachen gastiert. Mit Diabolos, Keulen, den Poi-Drachen und Einrädern zur Musik der Kölner Kombo „Höhner“. Alle Artisten des Viktoria-Schulzirkusses sind ziemlich aufgeregt, klar, das erste Mal bei den großen Kollegen im Zelt. Die eine will „Traubenzucker essen gegen das Manegenfieber“, der andere „auf den letzten Drücker hingehen. Dann hat man keine Zeit, nervös zu sein.“

10 Euro Gage kriegt jedes Kind pro Auftritt. Manche wollen sich ein eigenes Einrad zulegen oder neue Skater. Joscha (12) macht in Immobilien: „Ich kauf mir davon Häuser für meine Modelleisenbahn.“ Die großen Configuranis verdienen ein bisschen mehr: Für Stundenauftritte an anderen Schulen oder Jugendzentren gibt es manchmal 500 Euro.

Die Antwort auf Pisa?

Können Jonglage und Artistik sogar eine Antwort auf Pisa sein? „So weit würde ich nicht gehen“, sagt Direktor Schneider. „Aber die Frage ist wirklich, ob das mit diesem 45-Minuten-Unterricht so bleiben kann.“ Die Viktoria-Schule mache schon jetzt, unabhängig vom Zirkus, möglichst viele Doppelstunden. Der Enthusiasmus in der Zirkus-AG aber, vor allem wenn sie über ganze Tage geht, zeigt: Selbstständiges Arbeiten entsteht in der Rundum-Beschäftigung mit einem Thema. Der Zirkus ist dabei auch Vorbild für ein anderes Lernen – das an Misserfolgen. Der Schulleiter sieht das so: „Man macht ja ständig Fehler, etwa bei der Keulenjonglage. Zack, fallen die Dinger wieder hin. Man lernt aus Fehlern, man lernt Flexibilität und hat danach ständig kleine Erfolge.“

Neider sind, so der Direktor, an der Schule nicht auszumachen. „Höchstens gibt es Kritik von außerhalb, weil wir als private, kirchliche Schule eine bessere Unterrichtsversorgung anbieten können als viele staatliche Schulen. Dass wir eben unser eigenes Ding machen, was auch unglaublich wichtig ist fürs Renommee. Nach unseren Umfragen bei den Eltern sind die Zirkus-AGs längst einer der wichtigsten Gründe, warum so viele hier her wollen.“ Mittlerweile werde „die Viktoria-Schule mit dem Circus Configurani identifiziert“.

In der Halle führt derweil Aaron (10) seine Diabolo-Tricks im Dutzend vor, obwohl er erst seit einem Monat damit hantiert. „Ist ja nicht so schwer“, behauptet er kühn. Und fügt ohne Clownerie hinzu: „Aber nur wenn man viel übt. Nicht dass ich angeberisch wirke.“ Bei Roncalli ist Aaron nicht dabei. „Ich bin zu schlecht“, sagt er kokett, um sich gleich zu korrigieren. „Nein, das stimmt nicht. Die anderen sind besser.“

Am Trapez versuchen sich Lena und Karen immer noch. Ach, was ist überhaupt mit Clowns-Unterricht? „Das“, sagt Krenne Aymans, „ist für Kinder und Jugendliche viel zu schwer.“

Zirkus der Viktoria-Schule: Auftritt in der „HöhnerRockinRoncalliShow“, 3. 4.–11. 5. 2003, Reitstadion Aachen