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: Drum lasst uns ein Apfelbuch lesen!

Geld oder Aktien erbt wohl jeder gerne. Was aber, wenn das Erbe nicht nur materiellen Gewinn verspricht, sondern wenn Traditionen, Erinnerungen und Gefühle an den Besitz gebunden sind? An den Familienbetrieb etwa oder, schwieriger noch, das Elternhaus? Wer so ein Haus erbt, erbt nicht nur eine Immobilie, er erbt auch Geschichte und Vergangenheit – und zwar die eigene. Nicht immer ist das erfreulich.

Dass sich ein solches Erbe trefflich als Romanstoff eignet, wissen wir nicht erst, seit Arno Geiger vor drei Jahren mit „Es geht uns gut“ den Deutschen Buchpreis gewann. In diesem Frühjahr ist nun erneut ein Roman erschienen, in dem es um die Erbschaft eines Hauses geht. „Der Geschmack von Apfelkernen“ heißt das Debüt von Katharina Hagena; es ist gleich auf die Bestsellerlisten geklettert.

Katharina Hagenas Buch ähnelt dem Geigers nicht nur thematisch, sondern auch in Anlage und Aufbau. Die Ausgangssituation bildet hier wie da der Tod der Großmutter, die dem jeweiligen Protagonisten der Geschichte das Haus hinterlässt. Beide Empfänger sind unschlüssig, wie sie mit diesem Erbe verfahren wollen. Sie ahnen, welche Last sie sich damit aufbürden. Doch trotz aller Vorbehalte richten sie sich in der alt-neuen Heimat erst einmal ein.

Was folgt, ist ein Wechselspiel zwischen der Erzählgegenwart der Enkel und Rückblenden in die Zeit der Eltern und Großeltern. Stück für Stück wird die Geschichte von drei Generationen entfaltet: verbotene Liebschaften, tragische Todesfälle, Demenz der Großeltern, Konflikte im Naziregime – die Reihe der Übereinstimmungen ließe sich fortsetzen. Bis dahin, dass in beiden Romanen viel Zeit auf der Vortreppe des Hauses zugebracht wird.

Aber Katharina Hagena gelingt es auch, den bekannten Stoff in etwas Eigenes zu verwandeln. Wo Geiger den großen Bogen spannt und ausgehend vom Schicksal einer einzelnen Familie ein ganzes Gesellschaftspanorama zeichnet, ist bei Hagena das Private von Belang. Erzählt wird von Liebe, Tod, Ferien, unehelichen Kindern, Pubertätsnöten, dunklen Geheimnissen und Apfelbäumen, kurz: von allem, was Leben ausmacht.

Den roten Faden des Buchs bildet die Auseinandersetzung mit der Frage nach Erinnerung und Vergessen. Woran wird sich erinnert, was wurde vergessen oder verdrängt und warum? Der Roman umkreist dieses Thema in unterschiedlichen Variationen. „Und ich stellte fest, dass nicht nur das Vergessen eine Form des Erinnerns war, sondern auch das Erinnern eine Form des Vergessens.“ Der Wunsch, dem Text durch derlei Reflexionen mehr Tiefgang zu verleihen, ist erkennbar, glücklicherweise sind diese aber auch durch die Handlung motiviert. Denn je mehr sich die Protagonistin aus der Vergangenheit ins Bewusstsein holt, desto leichter fällt es ihr, den Ursprung ihrer eigenen, aus der Familiengeschichte resultierenden Probleme zu verstehen und zu akzeptieren. Das Ende vom Lied: Die Erbin kann sich selbst annehmen und dadurch auch ihr Erbe.

Die Sprache des Romans ist schön klar und der leicht ironische Unterton der Ich-Erzählerin gelungen. Es gibt allerdings einige schwer erträgliche Passagen, in denen es um Liebesgeschichte zwischen der Erbin und ihrem Anwalt geht. Da finden sich Dialoge wie dieser: „Ich habe mit Klientinnen keinen Sex im Freien.“ – „Ach nein? Merkst du nicht, dass du gerade dabei bist, mit einer Klientin Sex im Freien zu haben?“ Sie stehen zum Glück nicht für den Rest dieses intelligenten Debütromans. Drei Dinge gilt es also zu tun: Haus erben, Kindheitserinnerungen nachgehen und ein Apfelbuch lesen. ANNE NORDMANN

Katharina Hagena: „Der Geschmack von Apfelkernen“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 255 S., 16,95 Euro