Probe beim Krawallregisseur: Lebende Beweise

Volker Lösch inszeniert in Bremen eine Erwachsenen-Version der "Bremer Stadtmusikanten". Dazu stellt er arbeitslose Laien auf die Bühne und macht ihre Empfindungen sichtbar.

Grotesk übertriebene Entwürdigung: Neben Schauspiel-Profis stehen echte Erwerbslose auf der Bühne. Bild: Benno Schirrmeister

BREMEN taz | Er war einmal Drucker. Dann kam, vor fünf Jahren, die Arbeitslosigkeit. Jetzt ist er ein Esel. Es hatte ein Intermezzo gegeben, ein retardierendes Moment: ein Jahr in einem neuen Job. Dann lief der Wiedereingliederungszuschuss aus, er hatte einen Bandscheibenvorfall, der Körper, die Kräfte sind endlich.

Die Arbeitslosigkeit kam zurück. Und sie hat etwas Endgültiges bekommen: 58 Jahre ist er jetzt alt, das ist sein Fehler, eine tragische Schuld - also eine, der sich nicht ausweichen lässt, die man auf sich lädt, man weiß nicht wie. Man wird halt älter. Das werden viele, heutzutage. Das ist ein strukturelles Problem. Man kann es auch ein Schicksal nennen.

Jetzt Esel sein zu können, in Bremen, das bedeutet keinen finalen Abstieg. "Gerade nicht, irgendwie", sagt er. "Das hat was Befreiendes." Es gehe dabei um Wertschätzung, die sei wichtig. "Diese Wertschätzung spielt für mich eine große Rolle. Und das Team, also, dass man in einer großen Gruppe sich gemeinsam etwas erarbeitet."

Es ist - denn natürlich gehört diese Geschichte auf die Bühne, wie jede Tragödie - ein Theaterabend. Noch probt das Team, Regie führt Volker Lösch. "Altarmarbeitslos" heißt die Produktion: Es spielen 18 Erwerbslose jenseits der 50 gemeinsam mit sechs professionellen SchauspielerInnen, organisiert in vier Chören.

Löschs Anweisungen in der Probe sind präzise, manchmal knallhart und sarkastisch. "Lass doch mal endlich die Arme hängen!", schnauzt er, auch der Tanz müsse ekstatischer werden, ja, es läuft noch nicht alles rund. In einer Szene müssen sich alle AkteurInnen von einer zweifachen Karikatur der Arbeitsministerin Ursula von der Leyen Erwachsenenwindeln anlegen und den Po pudern lassen.

Die eigene Entwürdigung, Entmündigung auf die Bühne zu bringen, heißt, an ihr selbst in grotesker Übertreibung mitzuwirken. Weiße Zellstoff-Masken werden alle tragen bei der Premiere am Sonntag: Eselsköpfe, Hundeköpfe, Katzenköpfe, Hahnenköpfe.

Der Grimmsche Stadtmusikanten-Text, noch weit vor Werder der größte Faktor des Ruhms und vor Ort von vielen innigst gehasstes Klischee Bremens, war im Herbst als schroff-kitschfreies Weihnachtsmärchen im Goetheplatz-Theater produziert worden. Jetzt hat ihn Dramaturgin Beate Seidel mit Texten von Jean Améry, Slavoj Zizek und vor allem Heiner Müller zu einer Erwachsenen-Version kombiniert. Das Herzstück aber bildet, was die Laien-SpielerInnen aus ihrem Leben berichtet haben, Protokolle des Alltags.

Keiner spricht dabei seine eigenen Worte, es ist kein Bekenntnistheater und keine Exhibitionisten-Show. Manchen war es anfangs ein merkwürdiges Gefühl: die eigenen Sätze aus dem Mund eines anderen zu hören, es haben sich Distanzen zum Gesagten ergeben. "Es sind unsere Geschichten, die den Abend tragen", sagt der Mann, der ein Esel sein darf, in der Hauptstadt der Altersarmut.

Ach ja, der Lösch. Kennt man ja. So was macht der. Sein Patentrezept, um Skandale zu produzieren: In Hamburg wars diese Marat/Sade-Sache nach Peter Weiss, mit, zum Schluss, einer Reichsten-Liste, Forbes oder so, aber die Namen gesprochen von Langzeitarbeitslosen, die kein Mundwasser benutzen. So etwas tut man nicht. Und in Dresden: Gerhard Hauptmanns "Weber" mit einem Bürgerchor, auch Arbeitslose, von denen einer von der Rampe aus - naja irgendwie gings um die damals populäre Inhaberin einer öffentlich-rechtlichen Quasselbude. Skandal des Jahres!, schrie der Boulevard, Elend über Elend, klagten feinsinnigere Medien, und wo war denn der schöne schlesische Zungenschlag des Originals? Die Dichternachfahren prozessierten.

Auch in Bremen haben sich sämtliche Großfeuilletons angesagt. Das kommt hier am Theater seit 40 Jahren nur noch ganz selten vor. Es war aber zu erwarten: Eine seltsame Hassliebe verbindet sie mit Lösch. Viele nehmen ihm übel, dass er auch im realen Leben mit den Mitteln seines Theaters politische Kämpfe ausficht, in Stuttgart etwa mit Chören gegen den unterirdischen Bahnhof. Und längst haben sie ihn für ästhetisch irrelevant erklärt, als "Aktualbetrüger" beschimpft, als "Authentizitätsfanatiker" und "Agitpropper".

Wenn er irgendwo was macht, kommen sie trotzdem. Und fahren wieder heim und suchen nach einer Benennung, die origineller klingt als "Krawallregisseur". Vielleicht "Spezialist des Kurzschließtheaters"? Ach, das war er bereits 2009, auch "Theaterguerillaführer" schon.

Aber was solln sie denn tun, die Feuilletonisten? Der Ansatz des dokumentarischen Theaters, schon bei Erwin Piscator nicht nur Mittel des Klassenkampfs, sondern auch ein gezielter Versuch, die bürgerliche Ästhetik zu überwinden, inspiriert die Feuilletonisten stets aufs Neue zu Festen der Abwehr: Sie scheint noch immer das Verhältnis der symbolischen Ordnung zum Realen in Frage zu stellen. Und klar: Davon profitieren sie.

Das Stück passt in die Zeit. Gerade hat die schwarz-gelbe Koalition im Bund kalte Füße bekommen wegen der Rente mit 67, weil ja doch die Arbeitsgelegenheiten für "Best-Ager" knapp und obendrein dürftig sind.

Dabei hat die CDU-Bundesarbeitsministerin von der Leyen schon Mitte 2010 die Parole ausgegeben, dass "ältere Menschen die Gewinner des Arbeitsmarktes sind". Sie hat das dann wiederholt und variiert, etwa im August 2010: "Unterm Strich sieht man", hat sie da dem Deutschlandradio erklärt, "die Gewinner am Arbeitsmarkt, das sind die Älteren." Auch Bild brachte irgendwann diese "beste Arbeitsmarkt-Nachricht" und sie wird einfach nicht müde, es zu wiederholen: Der Satz ist zu einem Mantra geworden - oder einem Slogan, mit dem von der Leyen die Redaktionen der Republik agitiert.

"Dieser Satz muss als Zynismus gewertet werden", befindet nun Volker Lösch. Als "lebenden Beweis" setzt er die Erfahrung seiner Laien dagegen. Es geht weder um Krawall noch um Widerstand: "Es geht darum", sagt er, "den Zuschauer so zu infizieren, dass er Lust hat, sich damit auseinanderzusetzen."

Das ministerielle Sprüchlein ist dabei keine platte Lüge: Es bezieht sich auf die bundesweite Beschäftigtenquote der "rentennahen Jahrgänge". Die wächst, und sogar ziemlich flott, von Sommer 2010 auf 2011 um 3,4 auf 27,5 Prozent. Ein schöner Wert.

Nur ist das Schöne nicht das Wahre, sondern sein Glanz oder seine Glasur - vermutlich weil das Wahre nicht so hübsch aussieht. Bereits in der offiziellen Statistik wächst simultan zur Beschäftigten- auch die Arbeitslosenquote dieser Alterskohorte, bundesweit um sieben, in Bremen sogar um zehn Prozent. Und das, obwohl etliche Menschen jenseits der 50 in den Erhebungen der Bundesagentur nicht zählen - etwa weil sie älter als 58 und seit zwölf Monaten auf Grundsicherung angewiesen sind, weil sie krank sind oder weil sie in Ein-Euro-Jobs oder Programmen zur beruflichen Eingliederung stecken.

Gut die Hälfte der 10.000 örtlichen Schatten-Arbeitslosen sind älter als 50 Jahre. Sie wahrnehmbar zu machen, sichtbar und hörbar - das ist das Gegenteil von Agit-Prop. Das ist Aufklärung.

Premiere: Sonntag, 15. 1., 19 Uhr, Bremen, Theater am Goetheplatz
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