Lizenz zum Töten

JUSTIZ Die „Grand Jury“ richtete sich nach Grundsätzen aus den 1980ern. Die erlauben der Polizei die Anwendung von Gewalt, wann immer sich Polizisten bedroht fühlen

Rund 400 Menschen sterben in den USA jedes Jahr durch Polizeikugeln

VON BERND PICKERT

BERLIN taz | Das System der „Grand Jury“ als einer Art Vorverfahrenskammer ist alt und fast nirgends auf der Welt mehr im Gebrauch – außer in den USA. Im Fall des Todes von Michael Brown hatten zwölf von einem Richter zufällig ausgewählte BürgerInnen von Ferguson über eine Anklageerhebung zu entscheiden. Sie wurden routinemäßig bereits im Mai ausgewählt, also vor dem tödlichen Zusammentreffen. Neun von ihnen waren weiß, drei schwarz. Mindestens neun hätten für eine Anklage stimmen müssen, damit gegen den Polizisten Darren Wilson ein Prozess eröffnet wird.

25 Tage lang hörten die Juroren Zeugen an, befragten diese selbst oder bekamen Tonbänder von Zeugenaussagen vorgespielt. Sie wurden mit den Ergebnissen dreier unabhängig voneinander durchgeführten Autopsien vertraut gemacht, erfuhren, was über Abfolge und Entfernung der insgesamt zwölf Schüsse bekannt war, die Wilson am 9. August auf den 18 Jahre alten Brown abgegeben hatte. Dabei wurden sie von einem Staatsanwalt beraten – besonders geschult sind die JurorInnen allerdings nicht.

Mit ihrer Entscheidung, sie fänden in keinem der möglichen Anklagepunkte – von fahrlässiger Tötung über Totschlag bis Mord – ausreichende Hinweise für ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten, ist die Sache für Wilson im Bundesstaat Missouri zunächst erledigt. Jedenfalls ein Strafverfahren hat er dort nicht mehr zu befürchten.

Ein weiteres Verfahren allerdings läuft derzeit noch parallel auf Bundesebene: Wie in solchen Fällen nicht unüblich, untersucht das Justizministerium gleichzeitig, ob Wilson gegen Bundesgesetze verstoßen hat. Sollte etwa nachgewiesen werden können, dass Browns Hautfarbe den Polizisten zu einem aggressiveren Vorgehen bewogen hat, könnte ihm wegen Verletzung von Bürgerrechten der Prozess gemacht werden. Das ist aber unwahrscheinlich – selbst im Fall Trayvon Martin, dem 2012 von einem Wachmann erschossenen 17-jährigen Schwarzen, laufen die Ermittlungen noch. Es wird nicht erwartet, dass es zu einer Anklage kommt.

Die Familie des Getöteten hätte darüber hinaus noch die Möglichkeit, gegen Wilson zivilrechtlich vorzugehen. Der Fall des ehemaligen Footballstars O. J. Simpson ist dafür ein Vorbild: 1995 freigesprochen vom Vorwurf, im Jahr zuvor seine Exfrau und deren Freund umgebracht zu haben, wurde Simpson 1997 in einem Zivilprozess zur Zahlung von 33,5 Millionen Dollar an die Hinterbliebenen verurteilt. Ob die Familie des getöteten Michael Brown diesen Weg einschlagen möchte, ist nicht bekannt.

Schon vor der Verkündung der Grand-Jury-Entscheidung hatte in den USA kaum jemand mit einer Anklage gegen Wilson gerechnet. Mehrere Grundsatzentscheidungen des obersten Gerichtshofs aus den 80er Jahren erlauben der Polizei die Anwendung auch tödlicher Gewalt, wann immer sich Polizisten bedroht fühlen. Rund 400 Menschen sterben jedes Jahr durch US-Polizeikugeln, und nur ein winziger Bruchteil der jährlich mehreren zehntausend Beschwerden gegen exzessive Polizeigewalt führt zu Verfahren.

In den am Dienstag veröffentlichten Protokollen der Grand Jury erklärt Wilson, Brown habe ihn durchs Wagenfenster mehrfach ins Gesicht geschlagen, er habe Angst gehabt, k.o. geschlagen zu werden. Dass von der Wirkung dieser Schläge auf den anschließenden ärztlichen Aufnahmen nichts zu sehen ist, hat die JurorInnen offenbar nicht davon abgehalten, ihm zu glauben.

Die Frage, ob die Situation nicht auch anders als durch Schüsse zu lösen gewesen wäre, ist auch angesichts dieser Gesetzeslage von Belang. Bürgerrechtsorganisationen fordern schon lange, die „Lizenz zum Töten“ gesetzlich einzuschränken.