In die Zukunft

In Berlin tanzte der Kongress „Prognosen über Bewegungen“. Zwischen Performance und Ökonomie sollten neue Denkfreiräume entstehen

VON EKKEHARD KNÖRER

Der Kongress tanzt. Und zwar auf dem Ku’amm. Er hat Kopfhörer auf, über die per Radiosender Theorietexte eingesprochen werden. Und Anweisungen zu Bewegungsarten, in die man wechseln soll. Auf dem Ku’damm schlendert und tanzt der Kongress und die Teilnehmer sind frei, auf ihre Weise das zu tun, was man ihnen sagt.

Angemeldet ist die Veranstaltung, die sich Radioballett nennt und vom Künstlerkollektiv Ligna konzipiert worden ist, als politische Demonstration. Der Freiraum, in dem es über Kopfhörer Theorie und Kommando gibt, ist also einer, den der Staat eröffnet. Die Polizei hat den Ku’damm abgesperrt, um dem Kongress Bewegungs-, Theorie- und Tanzfreiheit zu gewähren.

Seinen eigentlichen Ort hat der viertägige Kongress, der den Titel „Prognosen über Bewegungen“ trägt, am Hauptspielort der freien Theaterszene Berlins: dem HAU. Dort setzt sich am Abend das Radioballett fort, aber als Theorieveranstaltung. Videoaufnahmen vom Nachmittag werden eingespielt. Texte werden verlesen, Walter Benjamin wird ins Spiel gebracht. Man hat Experten geladen, die über das tanzende Radioballett frei assoziieren sollen.

Die Politaktivistin Alice Creischer spielt nicht mit. Sie will nicht frei assoziieren. Sie fragt, was am Ku’dammtanz zum Teufel politisch gewesen sein soll. Der Medientheoretiker Hans-Joachim Lenger sitzt da im weißen Trenchcoat und will auch nicht frei assoziieren, er lässt im Folgenden trotzdem kein gängiges Diskurs-Buzzword aus.

Ausgangspunkt des Kongresses ist eine Diagnose: Die Zukunft ist nicht mehr das, was sie mal war. Sie wird von den Prognosen der Ökonomen und Demografen modelliert. Keine Utopien und Möglichkeitshorizonte mehr, dafür der Glaube an Vorhersagbarkeiten ohne viel Spielraum. Was die VeranstalterInnen Sibylle Peters, Gabriele Brandstetter und Kai van Eikels mit diesem Kongress vorhaben, sprechen sie deutlich aus. Sie wollen der Zukunft durch theorie-künstlerische Aneignung des Instruments der Prognose neue Spielräume und Denkbewegungsarten eröffnen. Dazu haben sie nach dem Modell der Wirtschaftsweisen „Bewegungsweise“ geladen, Performer und Wissenschaftler aus sehr verschiedenen Kontexten. Sie sollen Prognosen erstellen. Am liebsten freilich in der Form der Diskursgrenzüberschreitung.

Dass man die Rechnung dabei teils ohne den Gegner gemacht hat, wurde im Vortrag der Soziologin Karin Knorr Cetina klar. Die Prognosen der Ökonomie, stellte sie trocken fest, wissen um ihre Paradoxien. Den Ökonomen ist sehr bewusst, dass man nicht zuverlässig prognostizieren kann, aber die Analysten prognostizieren im Wissen um die Unmöglichkeit der Vorhersage doch. Es geht um plausible Szenarien, eine attraktive Geschichte (die Aktie als Held) und die Verführbarkeit der immer auch irrational Handelnden, dann läuft der Markt wie geschmiert.

Gewiss, das ist nicht die Form von Ereignisoffenheit, auf die der Kongress zielte. Nur sollte, wer mit dem Begriff produktiv und kritisch umgehen will, auf diese Einsicht in die durchgängige Komplexität des Einsatzes von Prognosen nicht so ohne Weiteres verzichten.

Für weite Teile der Veranstaltung galt dann mit Karl Kraus, dass das Theorieniveau hoch war, nur waren nicht alle drauf. Ein Tiefpunkt war der Vortrag des Theaterwissenschaftlers John McKenzie, der erst überall – aber eher unscharf – Performativität sah und im Lecture-Perfomance-Teil dann zukünftige Folterszenarien und runtergerockte Homo-sacer-Theorie mit Kalauern und Muzak bot. Das Performer-Kollektiv La Pocha Nostra verstörte manchen Betrachter mit schwersymbolischen Hybridbildungen von Körpern. Der Brite Joshua Sofaer ließ die Zukunft Berlins aus einem Digitalkompositbild von Experten wie einem chinesischen Gesichtsdeuter und einer Hollywood-Drehbuchautorin lesen. Der Philosoph François Jullien erklärte, warum man in China den Begriff der Zukunft nicht kennt, aber keinen Moment der Gegenwart zukunftslos denkt.

Die Beteiligten des Kongresses sendeten auf sehr unterschiedlichen Frequenzen. Mehr als einer näherte sich dem Thema der Tagung nur von sehr fern. Vier Tage lang galt es, aus manch Störgeräuschen und Rauschen zu filtern, was Einsicht versprach. Diese Offenheit für Irritationen war von den VeranstalterInnen durchaus gewollt: als Spielraum für Denkbewegungen aller Art.