Auf Zeit gespielt

EXPERIMENT Eine fiktionale Serie, in Echtzeit erzählt. Kann das gut gehen? Es kann, zeigen Arte und SWR fünf Tage lang mit „Zeit der Helden“ (ab Montag, 20.15 Uhr)

„Du liest dir das Drehbuch durch und denkst dir: Krass, diese Szene geht über zehn Seiten“

JASNA FRITZI BAUER SPIELT IN „ZEIT DER HELDEN“ DIE TOCHTER PAULINA BRUNNER

VON JÜRN KRUSE

Regisseur Kai Wessel fasst den Inhalt der Serie „Zeit der Helden“ im Ausschlussverfahren zusammen: „Wir haben keine Leiche, niemand hat Krebs, es werden keine Kinder misshandelt.“ Stattdessen werden die vermeintlich kleinen Dramen gezeigt, die in den Figuren zu größten Ängsten heranwachsen.

Vielleicht ist dieses Ausschließen der einfachste Weg, das Projekt zu beschreiben: „Zeit der Helden“ ist keine Dokumentation, auch wenn es manchmal so wirkt. Alle Figuren sind fiktiv, alle Geschichten sind fiktiv. Es ist aber auch keine typische filmische Erzählung mit Schnitten und Sprüngen, die Serie läuft in Echtzeit. Schaltet der Zuschauer um 20.15 Uhr ein, ist es auch im Leben der Serienfiguren 20.15 Uhr.

„Zeit der Helden“ ist das Herzstück der Midlife-Crisis-Programmwoche bei Arte und SWR, die den etwas sperrigen Titel „40 +: Jetzt oder nie! Fünf Tage Midlife und andere Katastrophen“ trägt. In der Karwoche, von Montag bis Freitag, können sich die Zuschauer jeden Abend bei beiden Sendern in das Leben der Familie Brunner und ihrer Nachbarn, dem Ehepaar Gregor und Sandra, einklinken. Zunächst ab 20.15 Uhr für eine Dreiviertelstunde und dann noch einmal um 22 Uhr für 30 Minuten. Am letzten Tag ist nach der ersten Schicht Schluss.

„Eine kleine Saga“, nennt Produzent Thomas Kufus die Serie, „über den Alltag in der Nähe von Mannheim.“

Einsam. Der Hals zu faltig

Die kleine Saga zeigt Arndt Brunner (Oliver Stokowski). Er ist 46 Jahre alt, Elektriker und einsam. Trotz seiner beiden Kinder, trotz seiner Frau Mai (Julia Jäger), die sich ebenso einsam fühlt. Ihr Hals ist zu faltig, denkt Mai, die 18-jährige Tochter Paulina (Jasna Fritzi Bauer) ist ausgezogen, Sohn Ben (Karl Alexander Seidel), 14, kapselt sich ab.

Die Nachbarn der Brunners heißen Gregor (Thomas Loibl) und Sandra (Inka Friedrich). Auch sie sind zu zweit allein. Gregor hat eine eigene Firma, Sandra ist Managerin bei einer Spielzeugfirma. Eigene Kinder, denen sie das schenken könnte, hat sie nicht. Christoph (Patrick Heyn) ist der Einzige, um den sich die beiden ein wenig kümmern. Christoph ist allerdings schon 43. Er ist Eventmanager, hat viel Arbeit und wenig Urlaub, aber „in der Karwoche ist eventmäßig ein bisschen Pause“. Deswegen wollen die drei in den Skiurlaub fahren. Christoph nimmt Katharina (Palina Rojinski) mit, eine Studentin und Escortlady. Er wird sie als seine Freundin vorstellen.

Diese kleine Saga brach mit allen Gewohnheiten der Fernsehmacher. Sie mussten sich überlegen, was das bedeutet, Fiktionales in Echtzeit zu erzählen: Autoren, die nichts verknappen konnten; Schauspieler, die für TV-Filme schier endlose Szenen drehten; Kameraleute, die – alles spielt ja abends oder nachts – mit schummrigen Lichtverhältnissen klarkommen mussten.

Produzent Kufus stellte allerdings schon mal die Gesetzmäßigkeiten des Fernsehmachens infrage. Er produzierte mit dem RBB und Arte „24 h Berlin – Ein Tag im Leben“, die Dokumentation, die 2008 im September gedreht und exakt ein Jahr später in Echtzeit auf beiden Kanälen gezeigt wurde – mit unerwartet hohen Quoten, guten Kritiken und diversen Auszeichnungen. „Wenn wir mit ‚24 h Berlin‘ einen ganzen Tag eines Senders ‚kapern‘ konnten, dann wollten wir das auch mal mit einer ganzen Woche probieren“, erzählt Kufus von der Ursprungsidee, die er wie schon bei „24 h Berlin“ gemeinsam mit Volker Heise erdacht hat: „Wir waren so irre und dachten, dass wir sieben mal 24 Stunden füllen würden. Der Zahn wurde uns aber relativ schnell gezogen.“

Dabei würden die meisten Zuschauer ohne die Zeiteinblendungen wohl kaum merken, dass das Gezeigte tatsächlich parallel zum eigenen Leben verlaufen soll. Im Gegensatz zu „24 h Berlin“ erweckt „Zeit der Helden“ durch die klar erkennbare Fiktionalität nur schwerlich die Illusion der Parallelität.

Geblieben ist dennoch ein ungewöhnliches Fernsehprojekt. „Die Autoren konnten nicht einfach ins Drehbuch schreiben: Sonnenuntergang, Paar küsst sich, Schnitt, Sonnenaufgang, er wacht auf, tastet mit seiner Hand nach ihr – weg ist sie“, erklärt Regisseur Wessel. Ein Schnitt, ein neuer Tag, alles ist anders – das funktioniert nicht. Das Verstehen der Figuren und ihrer Umstände läuft also über Menschen und Dialoge. „Wir haben gearbeitet wie am Theater“, sagt Wessel: „Die Schauspieler mussten Vertrauen zu mir haben. Sie sind Artisten, die auf einem Trapez herumturnen, und sie machen waghalsigere Dinge, wenn sie wissen, dass da unten ein Netz ist, das sie auffängt – und sie nicht mit Beinbruch oder Halsbruch bestraft. Der dreifache Salto war unser Ziel, auch mit der Möglichkeit, daran zu scheitern.“

Die Helden wirken echt

Und so ist „Zeit der Helden“ zu einem Kammerspiel geworden mit langen Einstellungen und langen Dialogen. „Du liest dir das Drehbuch durch und denkst dir: Krass, diese Szene geht über zehn Seiten“, sagt Jasna Fritzi Bauer, die die Tochter der Brunners spielt. Bauer, die gerade den Max-Ophüls-Preis als beste Nachwuchsschauspielerin gewonnen hat, hat häufig Bücher vor sich liegen, bei denen sie denkt: So redet kein Mensch. Bei „Zeit der Helden“ sind die Dialoge womöglich das Stärkste. Sie lassen durch ihre gewollte Imperfektion die Figuren authentisch wirken. Damit bricht „Zeit der Helden“ auch mit den Sehgewohnheiten der Zuschauer. Solche langen Szenen, ohne Schnitt, daran ist man nicht mehr gewöhnt. „Das ist ein Teil des Risikos“, sagt Martina Zöllner, Leiterin der SWR-Abteilung Film und Kultur Fernsehen. Aber das Fernsehen habe lange genug zu wenig riskiert.

Auch der Inhalt ist riskant: Midlife-Crisis. Das klingt trocken, das klingt schwer. Dabei ist die Serie in ihrer Tragik häufig sehr komisch. Wenn der Zuschauer den Elektriker Arndt sieht und erkennt, wie klein ein Mensch neben einem auf seinem Anhänger aufgebockten Swimmingpool aussieht, der nicht in seinen Garten passt, den er aber auch nicht zurückgeben kann, weil er ihn nachts einem dubiosen Händler für 1.000 Euro abgenommen hat. Arndt ist den Tränen nahe, der Zuschauer ist den Tränen nahe – und ist doch auch kurz davor zu lachen.

■ „Zeit der Helden“, von Montag bis Donnerstag, jeweils um 20.15 Uhr und 22 Uhr, und am Freitag um 20.15 Uhr auf Arte und im SWR. Dazwischen Dokus zur Midlife-Crisis