Gehirne in Gesellschaft

HIRNFORSCHUNG Dirk Baecker probiert sich an der Skizze einer „Neurosoziologie“

Die Neurowissenschaften erheben sich mehr und mehr zur neuen Leitwissenschaft. Was wir sehen, hören, fühlen, schmecken, denken ist schließlich eine Frage dessen, wie unsere Neuronen verschaltet sind. Statt der früheren philosophischen Grundfrage „Was ist der Mensch?“ scheint sich die entscheidende Frage der Menschheit heute auf ein lapidares „Was tut das Gehirn?“ zu beschränken.

Grund genug für den Soziologen Dirk Baecker, Schüler des Systemtheoretikers Niklas Luhmann, diesen konjunkturellen Aufschwung der Neurowissenschaften mit Sorge zu betrachten. Seine Reaktion ist aller Ehren wert: Er möchte einen Beitrag zur Hirnforschung unter dem Titel „Neurosoziologie“ anregen und stellt im gleichnamigen Buch einige theoretische Ansätze vor, ergänzt um eine grobe Skizze des möglichen Forschungsprogramms einer solchen Teildisziplin der Soziologie.

Das Vorhaben soll in kritischer Absicht „die theoretische, methodische und institutionelle Reichweite der gegenwärtigen Neurowissenschaften“ rekonstruieren. Baecker schwebt eine Vorgehensweise vor, die sowohl den empiristischen Reduktionismus als auch die spekulative Metaphysik etwa der Philosophie vermeidet und stattdessen eine „Lücke“ zwischen beiden findet. Genau genommen geht es Baecker um nichts weniger als das Bemühen, eine alternative Sprache zur Beschreibung des menschlichen Steuerorgans zu finden und damit einen Zugang zum Gehirn zu wählen, dessen mögliche Fragen und Antworten nicht vollständig durch das Vokabular der Neurowissenschaften vorgegeben sind.

Bei dieser alternativen Sprache beginnen in Baeckers Fall allerdings auch die Schwierigkeiten: Wer sich in der Terminologie der Luhmann’schen Systemtheorie nicht auskennt, sieht sich auf verlorenem Posten. Hinzu kommt, dass Baecker auf eine Vielzahl von Autoren verweist, ohne sich die Mühe zu machen, deren Begrifflichkeiten zu erläutern. Kann man ja selbst nachlesen. Nun ist es keine Beleidigung, seinen Lesern einige Bildung zu unterstellen, doch überkommt einen hin und wieder der Verdacht, Baecker habe dieses Buch in erster Linie für Leser geschrieben, die exakt auf demselben Kenntnisstand sind wie er.

Dabei enthält „Neurosoziologie“ durchaus bedenkenswerte Ansätze – von der Einsicht, dass das Gehirn sich weder selbst wahrnehmen kann noch sich der Vielzahl seiner Aktivitäten bewusst ist, bis hin zu der Frage, wie Gehirne zugleich unabhängig sein und sich gegenseitig beeinflussen können. Man wird abwarten müssen, ob auf diesen ersten Versuch noch gründlicher ausgearbeitete neurosoziologische Beiträge folgen.

TIM CASPAR BOEHME

Dirk Baecker: „Neurosoziologie. Ein Versuch“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 262 Seiten, 18 Euro