Gegen Neonazis: Was jetzt zu tun ist

APPELL Vor-Ort-Initiativen gegen neonazistische Gewalt und Projekte zur Hilfe von Opfern fordern eine Umkehr in der Politik der staatlichen Behörden gegen Rechtsradikalismus. Die taz dokumentiert den Appell gegen rechts

„Mobile Beratungsteams und Opferberatungsprojekte beraten und begleiten Opfer rechter Gewalt, Kommunen und Zivilgesellschaft . Auch wenn wir seit Jahren vor der Gewalt von Neonazis und rassistischen Gelegenheitstätern warnen, sind wir geschockt von dem Ausmaß an Ignoranz und Verharmlosung staatlicher Stellen angesichts der rassistischen Mordserie. Wir verlangen jetzt eine Zäsur im Umgang mit der extremen Rechten.

Erstunterzeichner:

– ezra – Mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen

– Kulturbüro Sachsen e.V.

– LOBBI – Landesweite Opferberatung, Beistand und Information für Betroffene rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern

– Miteinander e.V. – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt

– Mobile Beratung im Regierungsbezirk Münster. Gegen Rechtsextremismus, für Demokratie (mobim)

– Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Köln

– Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt

– Opferperspektive Brandenburg e.V.

– Opferberatung der RAA Sachsen

– Reach Out – Opferberatung und Bildung gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, Berlin

– Regionale Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) Mecklenburg-Vorpommern e.V.

– Verein für demokratische Kultur in Berlin e.V.

Der Appell wurde geringfügig gekürzt. Vollständig im Internet auf taz.de

Berichte auf SEITE 2, 3, 12, 13

1. Eingreifen und einmischen statt wegsehen

Jeden Tag ereignen sich in Deutschland mindestens zwei bis drei rechte und rassistische Gewalttaten. Die TäterInnen sprechen vor allem denjenigen das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Leben ab, die als Minderheiten ohnehin schon gesellschaftlich diskriminiert werden. Das zu ändern und eine inklusive Gesellschaft zu schaffen, können wir nicht an den Staat delegieren: Jede und jeder kann bei rassistischen Sprüchen am Arbeitsplatz, antisemitischer Hetze auf dem Sportplatz oder Schwulenwitzen Kontra geben und eingreifen. Und jede und jeder kann jetzt praktische Solidarität zeigen: zum Beispiel Spenden für Einrichtungen sammeln, die Zielscheibe von neonazistischen Brandanschlägen geworden sind, oder den Menschen in diesen Einrichtungen persönlich in Gesprächen oder praktisch beistehen.

2. Mehr Demokratie statt mehr Verfassungs-schutz

Polizei, Justiz und Geheimdienste spiegeln gesellschaftliche Verhältnisse wider. In einem Land, in dem regelmäßig ein Drittel der Menschen erklärt, Deutschland sei „im gefährlichen Maße überfremdet“, ist es keine Ausnahme, dass Sonderkommissionen „Aladin“ oder „Bosporus“ genannt und Opfer rassistischer Gewalt unter Generalverdacht gestellt werden. Schon die Bezeichnung „Döner-Morde“ ist rassistisch und entwürdigend. Nationale Terrorabwehrzentren und neue Gesamtdateien von Polizei und Geheimdiensten werden daran nichts ändern. Ein erster Schritt wäre eine klare Abkehr von den Feindbildern der „Linksextremisten“, „Muslime“ und „Fremden“.

3. Zivilgesell-schaftliche Expertisen anerkennen

Der derzeitige Schock der politisch Verantwortlichen über den Terror des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ lässt sich nur damit erklären, dass sie die öffentlich zugänglichen Informationen und Analysen der zivilgesellschaftlich Aktiven gegen rechts und Rassismus – Antifagruppen, Bündnisse und Beratungsprojekte – offenbar komplett ignoriert und stattdessen nur auf die Geheimdienste gehört haben. Künftig muss der Erfahrungsschatz der zivilgesellschaftlichen ExpertInnen angemessenes Gehör finden.

4. V-Leute abschaffen

V-Leute sind vom Staat bezahlte Neonazis, die Steuergelder dazu verwenden, um Neonazistrukturen auszubauen und zu stabilisieren sowie staatliche Stellen allenfalls mit fragwürdigen Informationen zu versorgen. In der Geschichte der deutschen Neonazibewegung waren immer wieder V-Männer und -Frauen in tödliche Attentate (Wehrsportgruppe Hoffmann) und Brandanschläge (Solingen) involviert, haben die Produktion und den Vertrieb neonazistischer Hassmusik organisiert (Brandenburg und Sachsen), NPD-Landesverbände am Laufen gehalten (Nordrhein-Westfalen), mit Steuergeldern militante Neonazistrukturen wie den Thüringer Heimatschutz und Blood&Honour aufgebaut und ein NPD-Verbot im Jahr 2003 verhindert.

5. Lückenlose Aufklärung und Konsequenzen auf allen Ebenen

Alle Daten und Informationen, die notwendig gewesen wären, um mit polizeilichen und rechtsstaatlichen Mitteln schon 1998 – vor Beginn der rassistischen Mordserie – gegen den Kern des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) vorzugehen, lagen den Strafverfolgungsbehörden und Geheimdiensten gleichermaßen vor. Doch diese Informationen wurden mit einer Mischung aus Verharmlosung, Entpolitisierung und Inkompetenz von Polizeibehörden, der Justiz und den Geheimdiensten ignoriert, wie sie bei rechter Gewalt immer wieder zu beobachten war und ist. Wer jetzt Aufklärung verspricht, muss überall dort, wo Versagen offenkundig geworden ist, auch personelle Konsequenzen ziehen, egal ob in den Innenministerien, den Geheimdiensten oder den Strafverfolgungsbehörden.

6. Nebelkerze NPD-Verbot ad acta legen

Die zum x-ten Mal geführte Debatte über ein NPD-Verbot verstellt den Blick auf das schockierende Ausmaß staatlicher Verharmlosung der extremen Rechten und gesamtgesellschaftlichen Rassismus. Effektiver als jede reflexartige Debatte wäre ein geschlossenes Vorgehen aller demokratischen Parteien dort, wo sie mit der NPD konfrontiert sind. Die NPD und die extreme Rechte sind überall dort stark, wo demokratische Parteien und die Zivilgesellschaft ihnen nicht ge- und entschlossen entgegentreten.

7. Engagement gegen rechts braucht Anerkennung

Bei den Protesten gegen den Neonaziaufmarsch in Dresden im Februar 2011 wurden Hunderttausende Telefonate abgehört, bei Ermittlungen gegen NeonazigegnerInnen wegen Aufrufen zu Blockaden wird nicht einmal mehr vor Kirchengemeinden haltgemacht. Wer Misstrauen gegen engagierte BürgerInnen sät, wird mehr rechte und rassistische Gewalt ernten. Und wer militante Kameradschaften schwächen will, muss alternative, nichtrechte Jugendkulturen fördern.

8. „Extremis-musklausel“ abschaffen

Die Bundesregierung zwingt die Projekte gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus zur Unterschrift unter eine sogenannte „Demokratieerklärung“, mit der sich die Projekte verpflichten sollen, ihre PartnerInnen auf Verfassungstreue zu prüfen und sie zu bespitzeln. Als Grundlage für die Einschätzung der Verfassungstreue von KooperationspartnerInnen sollen ausgerechnet die Berichte des Verfassungsschutzes dienen. Die zivilgesellschaftliche Arbeit wird seit Jahren beeinträchtigt durch die historisch falsche, wissenschaftlich unsinnige und politisch gefährliche „Extremismustheorie“, die Rechtsextremismus und Linksextremismus und damit auch Faschismus und Antifaschismus gleichsetzt.

9. Planungs-sicherheit für Projekte gegen rechts

Die Arbeit gegen die extreme Rechte braucht einen langen Atem, ist eine gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe und kein Strohfeuer und muss entsprechend dauerhaft gefördert werden. Außerdem sind rechte Gewalt und extrem rechte Aktivitäten keine Ostprobleme. Die Mehrheit der NSU-Morde ereignete sich in den alten Bundesländern – in Regionen, in denen seit Langem militante Neonazistrukturen aktiv sind. Die Beratungsprojekte in den neuen Bundesländern und Berlin arbeiten seit nunmehr über zehn Jahren erfolgreich und unabhängig, dennoch wurden ihnen wiederholt die Mittel gekürzt.

10. Rassismus endlich beim Namen nennen

Es ist unbegreiflich, dass im Zusammenhang mit den NSU-Morden von „Fremdenfeindlichkeit“ die Rede ist. Die Ermordeten waren mitnichten „Fremde“, „Türken“ oder „Griechen“, sondern repräsentieren die Mitte unserer Gesellschaft. Es ist Zeit, endlich von Rassismus und dem Wahn der „White Supremacy“ („Überlegenheit der Weißen“) zu sprechen, denn dies war das Motiv der Neonazis. Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle Menschen gleiche Rechte haben und gleich geschützt werden, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Status und allen anderen „Merkmalen“.