KOMMENTAR VON UWE RADA
: Der Protest der Verlierer gegen die Gewinner

Gentrifizierung ist keine radikale Kampfparole mehr, sondern bittere Erfahrung

Ganz hinten im Demonstrationszug durch Berlin-Kreuzberg beteiligte sich erstmals die Ver.di-Jugend. Mit einem eigenen Wagen. Mit Technomusik. Die Gewerkschaftsjugend beim revolutionären 1. Mai – das gab es schon lange nicht mehr.

Alle Jahre wieder – und dennoch war es anders an diesem Dienstag. Ausgerechnet am 25. Jahrestag der Kreuzberger Randale vom 1. Mai 1987 musste dieses Jahr ein CDU-Innensenator den Kampftag der Kreuzberger bewältigen. Allerdings hatte Frank Henkel bereits im Vorfeld angekündigt, an der Strategie seiner Vorgängers Ehrhart Körting (SPD) festhalten zu wollen. Zurückhaltung sollte die Polizei zeigen und Entschlossenheit da, wo es nötig ist. Damit war sie in den vergangenen Jahren erfolgreich gewesen. Und sie war es auch gestern wieder.

Das wirklich Neue an diesem 1. Mai war also nicht der Innensenator, sondern die erstaunlich hohe Zahl der Demonstranten. Schon bei der Walpurgisnacht am Vorabend waren 4.000 Gentrifizierungsgegner durch den Wedding gezogen. Das Thema Mieten ist auch nach der Bildung des neuen Berliner Senats auf der Agenda. Verdrängung und Gentrifizierung, das sind keine radikalen Kampfparolen mehr, sondern bittere Erfahrung. Die bunte Teilnehmerschar hat es gezeigt. Viel erstaunlicher sind die etwa 15.000 Menschen auf der 18-Uhr-Demo. Ganz offensichtlich haben die Organisatoren der revolutionären Mai-Demo mit der Verlegung der Demonstrationsroute nach Berlin-Mitte einen Nerv getroffen. Auch wenn der Protestzug dort dann – wie von Szenekennern vorab gemunkelt – nicht ankommen sollte. Hier die Verlierer, dort die Gewinner. Solche Parolen ziehen. Noch oder mehr denn je?

Als vor 25 Jahren Kreuzberg brannte, suchten Politik und Medien nach Erklärungen. Sie fanden sie nicht. Sollte die Bilanz des Innensenators am Mittwochmorgen doch noch dramatischer ausfallen als in den Vorjahren, wäre zumindest eine Erklärung naheliegend. Sie stand auf einem Demoplakat: „Der Druck steigt“. Bliebe der Abend nach dem Abbruch der Demonstration friedlich, könnte sich Henkel dafür rühmen, seine Feuertaufe bestanden zu haben.

Der Druck wäre damit aber noch nicht aus dem Kessel. Nur dass in den Tagen und Wochen nach dem 1. Mai dann nicht mehr die Polizei und Berlins Innensenator dafür zur Rechenschaft gezogen würden, sondern der ganze Senat. Zum Beispiel beim Thema Mietenpolitik.