Stalins Befehl: Genickschuss für Offiziere

20.000 polnische Männer wurden 1940 bei Katyn ermordet. Kriegsverbrechen belastet polnisch-russisches Verhältnis bis heute

WARSCHAU taz | „Katyn“ steht nicht nur für ein sowjetisches Kriegsverbrechen an polnischen Offizieren, sondern auch für eine der großen Geschichtslügen des 20. Jahrhunderts.

Polnische Offiziere gerieten im September 1939 nach dem Angriff der Sowjetunion auf Polen in Kriegsgefangenschaft. Mit Zügen wurden sie in Lager in Weißrussland, der Ukraine und Russland gebracht und dort interniert. Im Frühjahr 1940 gab Stalin den Todesbefehl. Alle polnischen Offiziere, insgesamt über 20.000 Männer, seien durch Genickschuss zu liquidieren. 1943 entdeckte die Wehrmacht auf ihrem Vormarsch nach Moskau erste Massengräber in den Wäldern bei Katyn. Die Nazis ließen einen Teil der Toten exhumieren und starteten eine große Propagandakampagne gegen die Sowjetunion. Moskau hingegen lastete den Massenmord an den Polen den Deutschen an und hielt fast 50 Jahre an dieser Lüge fest.

Die strenge Zensur hinter dem Eisernen Vorhang verhinderte, dass Journalisten oder Historiker über das Massaker von Katyn schreiben und forschen konnten. Die Archive blieben fest geschlossen. Erst 1988 gab Michail Gorbatschow, der damalige Präsident der UdSSR, zu, dass die Morde an den polnischen Kriegsgefangenen tatsächlich auf das Konto des sowjetischen Geheimdienstes gingen. Der russische Präsident Boris Jelzin entschuldigte sich in Polen Mitte der 90er-Jahre für das Massaker, überreichte erste Akten und versprach die Öffnung der Archive. Er erlaubte Polen auch, in den Wäldern von Katyn eine Gedenkstätte mit den Namen der Opfer zu errichten. Zum ersten Mal konnten die Hinterbliebenen nach Russland fahren und am Rande des Massengrabs Kerzen anzünden. Das Reden über Katyn stand nicht mehr unter Strafe.

Mit dem Amtsantritt von Präsident Wladimir Putin verschlechterte sich das polnisch-russische Verhältnis wieder. Die Archive wurden erneut geschlossen, das Ermittlungsverfahren eingestellt, die Rehabilitierung der Opfer für unmöglich erklärt. Auch in Polen verhärteten sich die Fronten. Das Institut für das Nationale Gedenken (IPN) behauptete plötzlich, dass es sich bei dem sowjetischen Kriegsverbrechen um einen Völkermord an den Polen handle. Dies sollte den Hinterbliebenen den Weg zu finanziellen Entschädigungen öffnen. Da sie vor den russischen Gerichten nicht weiterkamen, klagen sie jetzt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Wie die Klage ausgeht, ist offen. Doch in der offiziellen Stellungnahme Moskaus an das Gericht ist von keinem Mord und keinem Verbrechen die Rede, nur von einem „Ereignis“ in Katyn. Umso mehr überraschte die Polen die Einladung zu einer gemeinsamen polnisch-russischen Gedenkfeier für die Opfer des Massakers von Katyn. GABRIELE LESSER