Augenzeuge: Milizionäre morden Familien

SYRIEN In der Ortschaft Hulu sterben nach Protesten gegen Syriens Präsident Assad mehr als 100 Zivilisten

„Wir wussten, dass sie uns etwas antun würden, sobald sie die Gelegenheit haben“

VON GABRIELA M. KELLER

BERLIN taz | In der westsyrischen Ortschaft Hula sind am vergangenen Freitag über 100 Zivilisten getötet worden. Anwohner berichten von einem Überfall alawitischer Schlägertrupps auf die sunnitischen Siedlungen. Zunehmend nimmt der Aufstand in Syrien die Züge eines religiösen Konflikts an. Aktivisten vermuten, dass das Regime die Spannungen zwischen den Konfessionen absichtlich schürt.

Abu Dschaafar, ein Anwohner des Örtchens Hula, erinnert sich, dass sich die Menschen am Freitag zum Mittagsgebet sammelten. Danach wollten sie gegen das Assad-Regime demonstrieren, so wie jede Woche. Dann eröffneten die Regierungstruppen, die am Ortseingang stationiert waren, das Feuer. „Das ist an sich nicht ungewöhnlich“, sagte Abu Dschaafar. „Wann immer wir protestieren, fangen sie an zu schießen. Doch diesmal war es anders. Es waren so viele Bomben. Es fühlte sich an wie ein Erdbeben.“

Was in den folgenden Stunden geschah, zählt zu den bisher blutigsten Kapiteln des Aufstands gegen das Assad-Regime. Mehr als 100 Menschen starben von Freitag auf Samstag in Hula. Viele von ihnen kamen während der Raketenangriffe ums Leben. Andere sollen von regimetreuen Milizionären regelrecht hingerichtet worden sein, die in der Nacht aus dem Umland kamen. „Es waren etwa 400 Männer“, sagte Abu Suleiman, ortsansässiger Aktivist. „Über zwei Stunden marodierten sie in den Siedlungen.“ Sie hätten Türen eingetreten und ganze Familien in ihren Häusern ermordet, schilderte er die Lage. Die Berichte lassen sich nicht überprüfen.

Amateurvideos zeigen Leichen von Kindern, die in langen Reihen aufgebahrt sind. Grauenvolle Wunden sind zu sehen, geplatzte Schädel, weggesprengte Kiefer. Auf manchen der Bilder scheinen Einschusslöcher an den Schläfen zu erkennen zu sein. Die Hände einiger Kinderleichen sind noch gefesselt. „Wir können nicht mehr schlafen nach dem, was wir gesehen haben“, sagt Abu Emad, ein Aktivist aus der nahe gelegenen Stadt Homs, der in Hula geholfen hat, die Leichen zu bergen. „Sie haben die Leute regelrecht geschlachtet.“

Hula umfasst eine Reihe sunnitischer Dörfer. Seit mehreren Monaten stand die Region unter Kontrolle der Freien Armee Syriens. Als die Offensive am Freitag begann, sollen die Rebellen den Ortskern verlassen haben, um die Checkpoints der Armee am Ortsrand anzugreifen. Die umliegende Region ist überwiegend von Alawiten besiedelt, einer religiösen Minderheit, der auch der Assad-Clan angehört. Die Protestbewegung dagegen ist, wie die Bevölkerung insgesamt, sunnitisch dominiert. Nach Einschätzung des Menschenrechtlers Wissam Tarif ist es daher kein Zufall, was in Hula geschah: „Es ist das siebte Massaker dieser Art, das wir dokumentiert haben“, sagt er. „Sie passieren immer in Gebieten, wo eine sunnitische Minderheit mit einer alawitischen Mehrheit zusammen lebt. Diese Massaker sind staatliche Politik, die darauf abzielt, die sunnitischen Siedlungen zu leeren.“

Jetzt ist Hula fast verlassen; rund 80 Prozent der Bewohner sollen geflohen sein. Nach ähnlichen Angriffen stehen bereits 13 Viertel der Stadt Homs nahezu leer, sagte Wissam Tarif. Zugleich aber droht der Aufstand in einen Krieg zwischen den Konfessionen umzuschlagen. Viele Aktivisten vermuten, dass das Regime den Hass zwischen den Religionsgemeinden absichtlich schürt. Im Internet machen Aufrufe zu Morden an Alawiten die Runde. „Wir leben seit Jahrzehnten zusammen. Doch wir haben seit einiger Zeit gespürt, dass etwas passieren würde“, sagt Abu Dschaafar. „Wir wussten, dass sie uns etwas antun würden, sobald sie die Gelegenheit haben.“