Angriff in Echtzeit

MEDIEN Im ukrainischen Konflikt werden gezielt immer wieder auch Journalisten verprügelt, Kameras und Computer zerstört

KIEW taz | Bogdan Kutepow, Kameramann des unabhängigen ukrainischen Kanals Hromadske und ausgestattet mit einer Akkreditierung für das Kiewer Regierungsviertel, hatte sich kaum darangemacht, den „Anti-Maidan“ im Marinskij-Park zu filmen, als sich ihm Ordner der Demonstration näherten. Die Männer schlugen auf den Journalisten ein, entrissen ihm Arbeitsgerät und Brille.

Was sie nicht wissen konnten: Kutepow war gerade dabei, live von der Demonstration der Regierungsanhänger zu berichten. So kam es, dass Millionen Ukrainer den Vorfall am Dienstag in Echtzeit erleben konnten. Nach einer live im Fernsehen übertragenen telefonischen Aufforderung an den „Kommandanten“ des Anti-Maidan, ihm sein Gerät zurückzugeben, war Kutepow wenig später wieder ihm Besitz seines Tablet-Computers. Nur die Daten waren gelöscht.

Der Übergriff auf Kutepow ist kein Einzelfall: 113 ukrainische Journalisten wurden in den letzten zwei Monaten Opfer von Gewalt, 60 allein in den letzten zwei Wochen, berichtet die Kiewer Journalistin Victoria Bilash vom Internetportal telekritika.ua.

Begonnen hatte alles bei der Demonstration am 1. Dezember, als fünfzig Journalisten verletzt wurden. Ein Fotojournalist von Reuters wurde von Polizisten am Kopf getroffen, Reporter der unabhängigen ukrainischen Fernsehstation Hromadske wurden verprügelt, Kameras und Computersticks vernichtet. Zwei Mitarbeiter des 5. Kanal wurden mit Steinen angegriffen.

Am 25. Dezember schlugen zwei Männer die Journalistin Tatjana Tschornowol zusammen. Tschornowol hatte über Korruption in der Familie von Präsident Wiktor Janukowitsch und von Abgeordneten recherchiert. Kurz vor dem Überfall war sie auf explosive Dokumente gestoßen, die sie veröffentlichen wollte. Der Überfall verhinderte diese Veröffentlichung: Drei Wochen lag die Journalistin mit einer schweren Gehirnerschütterung im Krankenhaus. Bis heute, so Bilash, könne ihre Kollegin wegen ständiger Kopfschmerzen kaum am PC arbeiten.

Die ukrainischen Journalisten wollen sich mit dieser Bedrohung nicht abfinden. Derartig massiv gehäufte Angriffe hatte es seit der Unabhängigkeit 1991 nicht gegeben. Die Journalistin Soja Kasanschi erstellte eine Liste der Opfer unter ihren Berufskollegen, geschrieben mit ihrem eigenen Blut.

Als sich Alexander Efremow, Sprecher der Partei der Regionen, bei einer live übertragenen Pressekonferenz vor die Kameras stellt, wird er auf einmal von einem guten Dutzend Journalisten umringt, die Fotos ihrer verletzten Kollegen in die Kameras halten. Und auch Kameramann Bogdan Kutepow will nicht aufgeben. Er sagt, er müsse noch mal zurück in den Marinskij-Park – um seine Brille zu suchen.

BERNHARD CLASEN